Der Krieg in der Ukraine währt nunmehr ein Jahr. Er hinterlässt nicht nur Einschusslöcher, zerstörte und aufgerissene Gebäude, Tausende Tote und körperlich Versehrte. Der Krieg hinterlässt auch Wunden, die weniger augenfällig sind und die womöglich lange verborgen bleiben. Die Rede ist von Wunden an der mentalen Gesundheit der geflüchteten Menschen aus der Ukraine. Und insbesondere der ukrainischen Kinder. Wie geht es ihnen nach einem Jahr Krieg?
Sichtbare & unsichtbare Kriegswunden
Seit in den frühen Morgenstunden des 24. Februar 2022 der Krieg in die Ukraine kam, haben über 1.000 ukrainische Kinder ihr Leben verloren oder wurden verletzt. Viele von ihnen schwer. Drei Millionen Kinder sind aus ihrer Heimat geflohen und rund zwei Millionen leben als Vertriebene innerhalb der Ukraine. Gemeinsam mit ihren Müttern, Geschwistern oder Großeltern. Tausende sind nach Schätzungen aber auch unbegleitet.
Zu erfahren, wie die vertraute Welt zusammenbricht, zu spüren, wie Angst die eigenen Eltern erfasst, flüchten zu müssen, Beschuss zu erleben, gar mitansehen zu müssen, wie Menschen sterben, sich als Geflüchtete an einem fremden Ort zurechtfinden zu müssen, vielleicht Monate nichts vom Papa zu hören. Das alles hinterlässt Wunden in der Psyche und in der Seele der Kinder.
Wenn sie Explosionen hört, schreit meine Tochter. Sie fleht mich an, in den Schutzraum zu gehen. Der Krieg hat sie verändert.
Sich um diese unsichtbaren Wunden der Kinder zeitnah zu kümmern, ist ebenso wichtig, wie Nothilfe für die Menschen zu leisten. Sonst besteht die Gefahr, dass diese Wunden lange unentdeckt bleiben und langfristige Folgen auf das Leben der Kinder haben.
Wie wirken sich Kriegserlebnisse auf die mentale Gesundheit der Kinder aus?
1. Depression und Ängste
Aus anderen Krisenkontexten wissen wir, dass mehr als 22 Prozent der von Konflikten betroffenen Menschen unter psychischen Problemen leiden. Bezogen auf die Ukraine bedeutet dies, dass rund 4 Millionen Menschen und davon rund 1,5 Millionen Kinder infolge der Kriegserlebnisse Depressionen, Angstzustände, posttraumatische Belastungsstörungen, bipolare Störungen oder Schizophrenie entwickeln könnten.
2. Negative Bewältigungsstrategien
Frühe negative Erfahrungen können unter anderem zu ungünstigen Bewältigungsstrategien, ungesunder Lebensweisen und schlechter Stressbewältigung führen wie zum Beispiel Drogen- oder Alkoholkonsum oder Selbstverletzung. Dazu gehört auch aggressives Verhalten und Gewalt.
3. Bindungsfähigkeit leidet
Der toxische Stress kann die Fähigkeit der Kinder einschränken, vertrauensvolle Beziehungen einzugehen. Viele haben den Kontakt zu ihren Freunden, ihren Mitschülerinnen und Mitschülern, zu Eltern oder Großeltern verloren. Lyudmyla Boyko, Leiterin des Borodjanka-Zentrums für soziale und psychologische Rehabilitation teilt ihre Beobachtung:
„Dieses Jahr hat nicht nur die Erwachsenen verändert. Dieses Jahr hat auch unsere Kinder völlig verändert. Sie sind anders geworden. Nur noch selten sieht man eine Gruppe von Kindern, die sich wie Kinder verhalten - schreien, springen und Spaß haben. Kinder sind voller Angst, sie weichen ihren Eltern nicht von der Seite. Sie verbringen weniger Zeit mit Gleichaltrigen (…) Wir müssen uns mit ihren psychischen Problemen befassen. Jeden Tag, jede Sekunde. Sie müssen wissen, dass sie nicht allein sind. Sie müssen das Gefühl haben, dass sie vertrauenswürdige Menschen um sich haben.“
Wir müssen uns mit ihren psychischen Problemen befassen. Jeden Tag, jede Sekunde.
4. Körperlichen Beschwerden
Der toxische psychische Stress durch die Erlebnisse des Kriegs und der Flucht, den die betroffenen Kinder erleben, hat auch körperliche Auswirkungen. Bei Kleinkindern, deren Körper sich noch in der Entwicklung befindet, kann die Stressbelastung schlimmstenfalls dazu führen, dass sich Organe nicht gut entwickeln können. Das wirkt sich langfristig auf ihr körperliches Befinden aus.
Schlaf- und Essstörungen, psychosomatische Beschwerden nehmen nach dem Erleben von Beschuss, Verlust eines geliebten Menschen oder Flucht zu, wie wir von anderen Krisenkontexten wissen.
So setzt sich World Vision für die mentale Gesundheit der ukrainischen Kinder ein
Im Rahmen unseres Kriseneinsatzes in der Ukraine, Moldawien, Rumänien und Georgien hat World Vision gemeinsam mit Partnern vor Ort über 24.000 Menschen mit Maßnahmen zur psychischen Gesundheit und psychosozialer Betreuung (MHPSS) erreicht. Ziel ist es, die psychischen Auswirkungen des Krieges zu bewältigen.
- Wir unterstützen Krankenhäuser in der Ukraine darin, Menschen für die psychosoziale Betreuung auszubilden.
- Wir leisten auch Hilfe in der Ausbildung und Schulung von Menschen in psychologischer Erster-Hilfe und
- wir bieten Maßnahmen der psychosozialen Unterstützung gezielt für Kinder und Jugendliche in Gruppen und einzeln an. Zum Einsatz kommen zum Beispiel Kunsttherapie, Gesprächstherapie, Musik- oder Bewegungstherapie und Traumabewältigung durch Theaterspielen. Betreut werden sie von Sozialarbeitern, Psychologen und psychologisch geschultem Personal.
Musik und Bewegung wirkt toxischem Stress entgegen
Der 6-jährige Yehor ist eines der Kinder, das an der Musik- und Bewegungstherapie teilnimmt. Gemeinsam ist er mit seiner Mutter und seiner Oma vor einem Jahr aus der Ukraine nach Georgien geflohen. Dort war er nach dem Erlebten anfangs ein verschlossenes und in sich zurückgezogenes Kind. Nach einigen Sitzungen, sagt seine Oma, begann er sich mehr und mehr zu öffnen, spielte mit anderen Kindern und lächelte auch mal wieder. Tamar, die Musiktherapeutin, sagt, „Ziel dieser Sitzungen ist es, die Kinder dabei zu unterstützen, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und ihre Probleme schrittweise und ohne Druck zu lösen. Einige Kinder haben Probleme mit der Konzentration und der Kommunikation, andere haben Verhaltensauffälligkeiten. Durch die Aktivitäten helfen wir ihnen, ihr Verhalten auf eine positive Weise zu ändern."
Krieg darf für Kinder nicht zur Normalität werden und es muss alles getan werden, um den Frieden wiederherzustellen. Das ist ein erster Schritt. Doch bis auch die unsichtbaren Wunden der Millionen Kinder aus der Ukraine heilen können, wird noch viel Zeit vergehen.