Während die Welt Haiti vergisst, lebt Guy Faubert Vital-Herne jeden Tag an der Frontlinie der Hoffnung. Ein Bericht, der erschüttert – und aufrüttelt.
Port-au-Prince war einmal meine Heimat. Das ist es immer noch – aber auf ganz andere Weise.
Ich lebe und arbeite in Port-au-Prince, der Hauptstadt von Haiti – einem Ort, der einst für seine Farben, seine Musik und seine tiefe spirituelle Widerstandskraft bekannt war. Heute ist er für etwas anderes bekannt: Banden, Entführungen und Angst. Das Land ist in eine der schlimmsten humanitären und sicherheitspolitischen Krisen seiner Geschichte gestürzt. Straßen sind nicht mehr nur Straßen. Sie sind Frontlinien. Stadtviertel sind nicht einfach nur Gemeinden – sie sind Kampfzonen.
Ich arbeite seit 15 Jahren für World Vision und arbeite mit Kirchen zusammen, um schutzbedürftige Kinder zu schützen, auf Notfälle zu reagieren und Gemeinden zu stärken. Aber in Haiti fühlt sich diese Arbeit heute an, als würde man durch Feuer gehen. Die Straßen sind blockiert. Bewaffnete Banden haben ganze Stadtviertel unter ihre Kontrolle gebracht. Jede Bewegung, jeder Besuch, jedes Treffen ist eine Entscheidung, die mit Risiken verbunden ist.
Es gibt keine wirklich "sicheren Zonen" mehr
Wir leben mit dem ständigen Lärm von Schüssen. Ich habe gelernt, zwischen Einzelschüssen und automatischen Salven zu unterscheiden. Ich weiß, wann ich mich hinlegen, wann ich mich verstecken und wann ich still sein muss. Meine Frau und ich haben Fluchtwege und Notfallkontakte auswendig gelernt. Wir öffnen die Tür nicht, ohne zu fragen, wer da ist, und zweimal hinzuschauen.
Das Schlimmste daran? Wir gewöhnen uns alle daran. Das Geräusch von Schüssen lässt mich nicht mehr zusammenzucken. Das macht mir mehr Angst als die Kugeln. Das ist unsere neue Normalität.
Leben unter Bedrohung
Man schläft nie wirklich. Man legt sich hin und hofft, dass man spät in der Nacht keine Motorräder hört – solche, wie sie Gangs benutzen. Man nimmt jeden Tag einen anderen Weg zur Arbeit, niemals zur gleichen Zeit. Man packt eine Tasche mit Bargeld und Dokumenten für den Notfall, nur für den Fall. Und man hält sein Handy immer – immer – voll aufgeladen.
Sicherheitsvorkehrungen bestimmen mittlerweile jeden Aspekt meines Lebens. Wir denken nicht nur darüber nach, was passieren könnte, sondern planen ständig für den Fall der Fälle. Was, wenn eine Straßensperre errichtet wird? Was, wenn ein Kollege entführt wird? Was, wenn meine Kinder in der Schule sind, wenn es zu Gewaltausbrüchen kommt?
Wir haben Menschen verloren. Einige Freunde wurden entführt und nach wochenlangen Verhandlungen freigelassen. Andere hatten nicht so viel Glück. Ich kenne jemanden, der erschossen wurde, nur weil er sich weigerte, sein Auto aufzugeben. Ein anderer Freund geriet in ein Kreuzfeuer und überlebte nicht. Wir trauern, wir halten Mahnwachen, wir weinen – und dann stehen wir auf und gehen wieder zur Arbeit. Denn wenn wir es nicht tun, wer dann?
Bitte schaut nicht weg! Wir brauchen Solidarität. Wir brauchen Fürsprache. Aber mehr als alles andere brauchen wir, dass man uns sieht.