23.01.2021

Ein Handy verbindet Souad mit ihren Zukunftsträumen

Fernunterricht im Libanon

Autor: IManner

Souad bewundert Ärzte und möchte am liebsten selbst Ärztin sein, wenn sie groß ist. Letztes Jahr konnte sie sich das noch im Spiel mit anderen Kindern ausmalen. Aber jetzt darf man sich nicht zum Spielen verabreden und die Schule ist geschlossen. Es gibt momentan nur eine Sache, die Souad mit ihren Zukunftsträumen verbindet: das Telefon ihrer Mutter. 

Hier bekommen Sie einen Eindruck vom Fernunterricht im Libanon, den World Vision gemeinsam mit Partnern benachteiligten Mädchen und Jungen anbietet, die sonst während der Pandemie keinen Zugang zu Bildung hätten.

Pandemie verschärft Ungleichheiten und Armut

Für Kinder im Libanon war das letzte Jahr schon unvorstellbar – traf die Pandemie das Land doch mitten in einer schweren Wirtschafts- und Staatskrise. Viele Familien haben seit vielen Monaten kein Einkommen mehr und deshalb große Mühe, über die Runden zu kommen. Um das schwache Gesundheitssystem zu schonen, wurden strenge Ausgangsbeschränkungen verhängt. Nur 12 Wochen lang konnten Kinder und Jugendliche insgesamt die Schule besuchen.

Nach einer kurzen Phase der Lockerung ist der Libanon jetzt wieder im Lockdown – Schulen und Kitas eingeschlossen. Da der Staat viel weniger Ressourcen hat als Deutschland, um benachteiligten Mädchen und Jungen in dieser Krise zu helfen, rechnen unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit weitreichenden Folgen. „Wir erwarten einen Anstieg von Kinderarbeit durch die Schließung der Schulen und sehen diesen bereits“, erklärt Charbel Chidiac, Bildungsexperte bei World Vision Libanon. „Unsere größte Sorge ist, dass viele Kinder ganz abgehängt werden und ihre Schulausbildung abbrechen, weil sie jetzt keinen Zugang zu Fernunterricht oder zu große Schwierigkeiten damit haben“, ergänzt er.

Fokus der Hilfe: Bildung sichern und soziale Isolation vermeiden

„Unser Schwerpunkt ist eigentlich die frühkindliche Bildung, um Kindern eine gute Grundlage an Lernfähigkeiten zu vermitteln. Momentan konzentrieren sich unsere Anstrengungen aber darauf, etwas gegen die soziale Isolation benachteiligter Kinder zu tun und ihnen zu ermöglichen, in der Schule zu bleiben." 

Khaled und Adnan freuen sich über jedes Paket mit Lern-und Bastelmaterial im Lockdown, das sie durch World Vision-Mitarbeiter  im Libanon bekommen. Foto: Marc Aj
Dem Schulanfänger Hassan hilft seine große Schwester Lariissa beim Zählen und Rechnen.
Der 6jährige Mouawiya nimmt auch gerne am Fernunterricht teil. "Ich kann schon zählen und kenne die Wochentage in Englisch", sagt er stolz. "Gabe es dieses Hilsprogramm nicht, hätte er wahrscheinlich gar keine Bildung bekommen", sagt seine Mutter Majida, die dankbar für diese Chance ist.
Fawzia (6) bekommt immer glänzende Augen, wenn sie über die Schule spricht. Sie möchte Zahnärztin werden.

In den Zelt-Siedlungen syrischer Flüchtlinge in Akkar im Nord-Libanon leben einige der Kinder, die besonders auf Unterstützung angewiesen sind. Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen sind für diese Kinder auch Schutz-und Zufluchtsorte. Hier vergessen sie ihren grauen Alltag voller Entbehrungen. Sie kommen  in eine buntere Welt, die ihnen Anregungen bietet und in der sie in einer sauberen Umgebung mit Freunden zusammen sein können. 

Souad ist eines dieser Kinder. „Ich kam hierher auf der Suche nach Sicherheit für meine Familie“, erzählt Souads Mutter, die vor 5 Jahren aus Syrien floh. „Aber das letzte Jahr hier war wirklich schwierig, wegen der wirtschaftlichen Situation und dem Coronavirus“, sagt sie. „Wir waren und sind immer noch sehr verängstigt wegen des Virus. Ich mache mir jedes Mal Sorgen, wenn eines meiner Kinder krank wird oder anfängt zu husten. Jetzt sitzen wir zusammen in unserem kleinen Zelt fest, weil meine Kinder wegen der Pandemie nicht in die Schule gehen und lernen können.“

Im Lockdown ist die Situation für Flüchtlinge in einer Zeltsiedlung im Libanon besonders hart.
Souad hat wegend es Krieges in Syrien bisher fast ihr ganzes Leben im Flüchtlingslager verbracht. Ihre Mutter Samira hofft trotzdem, dass das Mädchen eine gute Zukunft haben wird.

Samira ist es sehr wichtig, dass ihre drei Kinder eine gute Bildung bekommen. Doch wie soll sie ihnen diese bieten können, wenn die öffentlichen Schulen nicht auf Distanzunterricht eingestellt sind und auch kein Computer vorhanden ist? Besonders um Souad macht sie sich Sorgen, da das Mädchen schon im 1. Schuljahr Ausdrucks-und Lernschwierigkeiten hatte. 

Teamwork am Telefon gibt Sicherheit

Durch ein Hilfsprogramm, das World Vision gemeinsam mit Unicef durchführt, erhalten Souad und andere syrische Kinder in Akkar einen auf diese Verhältnisse abgestimmten Fernunterricht. Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bringen ihnen regelmäßig Pakete mit Schreib- und Lernmaterialien. Es geht für die Jüngsten dabei vor allem um Grundkenntnisse im Umgang mit ihrer Sprache (arabisch), ums Lesen, Schreiben und Rechnen. Die Lehrkräfte verständigen sich mit den Kindern und den Eltern hauptsächlich in Chatgruppen auf dem Mobiltelefon. Sie tauschen Materialien aus, geben Feedback und helfen mit Tipps, wie man in der Krise Stress mindern bzw. das Wohlergehen der Kinder fördern kann. 

Entscheidend für die Kinder ist, dass sich verständnisvolle, engagierte Lehrkräfte und Eltern gemeinsam um das Wohl des Kindes bemühen.
Charbel Chidiac, Bildungsexperte, World Vision Libanon

„Ich habe vor etwa zwei Monaten angefangen, Souad zu unterrichten“, sagt ihre Lehrerin, Malak el Riz. „Am Anfang war sie sehr schüchtern und hat nicht viel gesprochen. Sie hatte Schwierigkeiten bei der Aussprache und Angst, etwas Falsches zu sagen.“ Malak nahm das kleine Mädchen unter ihre Fittiche.

„Ich musste Wege finden, um ihr zu helfen und Fortschritte zu machen. Deshalb habe ich angefangen, sie jeden Tag einzeln zu unterrichten und nicht nur im Gruppenchat“, sagt sie. „Schnell habe ich bei Souad positive Wirkungen bemerkt. Ihre Aussprache ist besser als früher. Sie wird mutiger beim Sprechen und Lernen. Insgesamt habe ich das Gefühl, dass sie besser wird und sie es liebt, mit mir in Kontakt zu treten und zu lernen“, sagt sie. „Ich versuche auch, ihre Aktivitäten zu erweitern, um sie zu ermutigen, und so bekommt sie Spaß am Lesen und Schreiben. Ich schicke ihr immer Videos und Audiodateien, damit sie Zahlen und Buchstaben hören kann und auch z .B. den Umgang mit Farben lernt.“ 

Souad kann inzwischen problemlos bis 10 zählen und kennt die Buchstaben des Alphabets. Dennoch kann sie es kaum erwarten, wieder zur Schule zu gehen und ihre Freunde zu sehen.

Bei dem 6jährigen Baraa, der seinen Vater verlor, genügt Unterricht aus der Ferne nicht
Lehrerin Daleeda Zogbhi half dem 6-jährigen Baraa persönlich, damit er im Fernunterricht besser zurecht kommt.
Baraa ist eines von vielen Kindern im Libanon, denen ein Elternteil fehlt.
Baraa vermisst seinen Vater und hat deshalb Lernschwierigkeiten, aber die Hilfe seiner Lehrerin gab ihm Selbstvertrauen.

So nützlich die Technologie auch ist, um benachteiligten Kindern während der Pandemie und darüber hinaus ihr Recht auf Bildung zu sichern: „Entscheidend ist, dass sich verständnisvolle, engagierte Lehrkräfte und Eltern (bzw. Betreuerinnen und Betreuer) gemeinsam für das Wohl des Kindes einsetzen“, erklärt Bildungsexperte Charbel Chiriac. „Wir fördern dies, indem wir zum Beispiel die Lehrkräfte fortbilden und psychosoziale Beratung in Angeboten zum Fernunterricht integrieren“. Im Libanon sei es außerdem wichtig, gegen Stigmatisierung und Diskriminierung vorzugehen. 

Vor der Pandemie: eine Erzählrunde in der von World Vision geförderten Einstiegsklasse im Libanon.
Wie überall auf der Welt vermissen auch die Kinder im Libanon die Gemeinschaft mit anderen Kindern im Unterricht.

Schon bei der ersten Online-Sitzung im Fernunterricht fiel Daleeda Zoghbi auf, dass ihr Schüler Baraa kaum reagierte und sich schwer tat zu sprechen. Die Lehrerin hatte das Gefühl, dass es mit einem bestimmten Problem zu Hause zusammenhängen könnte. Daleeda wandte sich an Baraas Mutter Moshira und erfuhr so, dass der Vater des Jungen vor fast 2 Jahren plötzlich verschwand. Seither sprach Baraa kaum noch mit seiner Mutter und wollte auch nicht mehr mit seinem Bruder spielen. „Ich wusste nicht, dass ein Kind so stark auf einen Verlust reagieren kann, aber Daleeda hat mir alles erklärt“, erzählt Moshira. „Ich wollte immer nur das Beste für meine Kinder und ihre Ausbildung war meine oberste Priorität.“

Von diesem Moment an arbeiteten die beiden Frauen zusammen, um Baraa die nötige Unterstützung zu geben. „Daleeda hat sich mehr als nur bemüht, meinem Sohn zu helfen. Ich weiß es wirklich zu schätzen, wie viel Zeit sie vor allem ihm gewidmet hat“, sagt die Mutter. Als er all diese Zuwendung spürte, öffnete sich Baraa zunehmend. „Er begann während der Online-Sitzungen zu interagieren und seine Aussprache machte enorme Fortschritte“, erklärt seine Lehrerin. „Ich kann sogar das Selbstvertrauen spüren, wenn er jetzt spricht, und das hat mir vorher gefehlt.“ Auch Moshira bemerkte Baraas Entwicklung: „Früher hat er stundenlang zu Hause vor dem Fernseher gesessen und Zeichentrickfilme geschaut, ohne ein Wort zu sagen. Aber jetzt hat Baraa angefangen zu sprechen und seine Bewunderung auszudrücken, besonders für seine Lieblingsfigur Ben 10.“

Souad und Baraa sind zwei von vielen Kindern, denen besondere Zuwendung durch Förderndes Lernen gerade sehr helfen kann, sich durch die Schwierigkeiten dieser Zeit zu kämpfen. Auch wenn das Telefon gerade den Klassenraum ersetzen muss. 

„Die Unterrichtseinheiten sind ein Silberstreif in ihrem Leben“, ist Daleeda Zoghbi überzeugt. „Sie haben ihnen gezeigt, dass es trotz der harten Umstände, die jeder durchmacht, immer noch Menschen gibt, die sie unterstützen wollen, und dass immer jemand bereit ist, zu helfen.“

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