Von Amanda Rives-Argeñal, Senior Director of External Engagement and Resource Development, Disaster Management
Dieses Jahr werde ich nicht mehr vergessen, denn es ist bereits mit vielen Daten gespickt, die mir für immer im Gedächtnis bleiben werden – der 11. März, 13. Juni und 5. Juli. Der erste, der 11. März, war ein wichtiger Tag bei World Vision. Die Weltgesundheitsorganisation bestätigte die beängstigende Realität, der wir ins Auge sehen müssen - eine globale Pandemie, die sich mit beispielloser Geschwindigkeit ausbreitet. Die Kinderhilfsorganisation World Vision startete an diesem Tag die größte und ehrgeizigste humanitäre Hilfsaktion in ihrer Geschichte. Wir befinden uns in einem Marathon und hören seitdem nicht mehr auf zu laufen.
Unsere Teams vor Ort in fast allen Ländern, in denen wir arbeiten und in den Hauptstädten der Welt reagierten blitzschnell. Wir versuchten zu verstehen, uns anzupassen, Spenden zu sammeln, Einfluss bei Politikern zu nehmen, um für die Opfer der Pandemie einzutreten. Wir setzen uns dafür ein, das Bewusstsein zu schärfen, wie die Seuche die am stärksten gefährdeten Mädchen und Jungen und ihre Familien und Gemeinschaften auf der ganzen Welt trifft. Ich arbeitete rund um die Uhr und an jedem Wochenende und sah mit Freude, wie wir von Zehntausend über Hunderttausend auf heute schon über 44 Millionen Menschen mit Hilfe erreicht haben, viele davon Kinder. Ich beobachtete aber auch besorgt, wie die schlimmsten Szenarien in vielen der Länder, in denen ich gelebt und gearbeitet habe, zur Realität wurden - unkontrollierte Übertragung in den Gemeinden, steigende Infektions- und Todesraten, wachsender Hunger, Unsicherheit und verheerende, wenn auch weitgehend unsichtbare Auswirkungen auf Kinder.
Am 13. Juni traf die Seuche meine Familie und mich ganz persönlich. Bis dahin hatten wir die Pandemie in unserem Zuhause außerhalb von New York ganz gut überstanden. Zwar betrafen uns die Beschränkungen, die in der Stadt ausgerufen worden waren ebenso wie alle anderen, aber wir waren in unserem vollen Haus zufrieden. Wir konnten Arbeit und Unterricht für unsere Kinder einigermaßen unter einen Hut bringen, hatten genug zu essen und alles, was wir brauchten. Mein Mann arbeitet für eine andere Organisation, um die weltweite Pandemie einzudämmen. Wir waren zwar besorgt, aber hatten so viel zu tun, dass wir kaum zum Nachdenken kamen.
Ein Arzt brach in Tränen aus
Dann wurde die Familie meines Mannes krank. Seine Mutter, sein Vater, seine Schwester und seine kleine Nichte in Honduras waren offenbar mit dem Corona Virus infiziert. Mein Schwiegervater war am kränksten - das Virus beeinträchtigte zuerst seine Nierenfunktion, später seine Lungen. Unsere Familie setzte sich für häusliche Pflege ein, da die Menschen zu der Zeit nicht ins Krankenhaus gehen wollten. Aber irgendwann war es unvermeidlich – die Ärzte und Krankenschwestern konnten meinen Schwiegervater bei sich zu Hause nicht mit genug Sauerstoff versorgen. Mein Schwager brachte ihn daher ins Krankenhaus, wo es ihm zunächst gut ging. "Er ist stabil und isst gut", sagten sie uns immer wieder. Wir wurden zu Experten für Sauerstoff-Sättigungswerte. Die Ärzte und Krankenschwestern waren allerdings völlig überlastet. Irgendwann brach ein Arzt während eines Gesprächs in Tränen aus. Er erzählte uns, er habe so viele Kollegen und Patienten leiden sehen und könne es nicht mehr ertragen. Mein Mann und ich arbeiteten noch härter, denn wir hofften, dass wir mit Hilfe unserer Kolleginnen und Kollegen die Pandemie erfolgreich bekämpfen könnten.
Und dann, am 5. Juli, veränderte sich unser Leben. Meine Schwiegermutter rief an sagte: „Er ist gegangen, Sohn, dein Vater hat uns verlassen, sei tapfer." Dann legte sie auf. Ich drehte mich um und fühlte mich, als wäre ich geschlagen worden. Tiefe Trauer befiehl uns. Wir konnten nicht fassen, dass unser Vater und Schwiegervater für immer fort war. Wir waren verzweifelt über die Ungerechtigkeit, dass ein geliebter Mensch nun nicht mehr bei uns sein sollte, Schmerz erfüllte mich bei dem Gedanken, dass er allein sterben musste, Verzweiflung darüber, wie dies meine Familie auf Jahre hinaus mit Gefühlen des Bedauerns, der Traurigkeit, der Schuld und der Wut belasten würde. Dies war ein vermeidbarer Tod! Wir haben so hart daran gearbeitet, um dies zu verhindern!
In Honduras ging der Sauerstoff aus
In den nächsten drei Wochen erschrak ich jedes Mal, wenn das Telefon klingelte. Mein Schwager war nun schwer krank und kämpfte um sein Leben. Weitere 10 Mitglieder der unmittelbaren Familie infizierten sich. Es scheint egoistisch zu sein, darüber zu sprechen, wie mein Mann und ich uns fühlten, aber es war wie ein Alptraum, in dem wir wie gelähmt waren. Jeden Tag meldeten wir uns mehrmals und hörten, wie die Situation im Umfeld unserer Familie immer schlechter wurde. Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger kämpften verzweifelt um das Leben so vieler Menschen, suchten nach Medikamenten und Behandlungsmöglichkeiten, um das Leid der Patienten zu lindern. Irgendwann brach das Gesundheitssystem in Honduras zusammen. Sauerstofftanks wurden knapp. Viele Teenager kümmerten sich zuhause um ihre Familien, bis sie selbst krank wurden. In einer Zeit, in der wir gefühlsmäßig kaum mehr tun konnten als zu beten und uns Sorgen zu machen, verbrachten mein Mann und ich die Zeit damit, zu recherchieren, wie man Sauerstoff herstellt. Wir saßen Stunden vor dem Computer um herauszubekommen, welche Medikamente die besten wären. Wir stritten darüber, wie Regierungen, NGOs und die Vereinten Nationen reagieren sollten. Und natürlich lasen wir immer wieder die Nachrichten über steigende Fälle von COVID-19 auf der ganzen Welt. Wir waren immer verzweifelter, wütender, dann deprimiert.
Dutzende von Familienmitgliedern und Freunden in Mittelamerika haben sich inzwischen infiziert. Die meisten erholen sich gerade, einige werden bleibende Gesundheitsschäden haben. Von den seelischen Wunden haben wir uns noch lange nicht erholt. Acht Kinder, darunter auch mein eigenes, haben ihren Großvater verloren, mein Mann und seine Geschwister ihren Vater, und Honduras verlor einen großen Mann, einen bescheidenen, aber engagierten Lehrer, der später neben anderen Führungsaufgaben zum Vizeminister für Bildung ernannt wurde. Don Amado wird nun nie mehr seine Farm besuchen, einen Nachmittag in der Hängematte verbringen oder mit seinen Enkeln im Meer baden gehen oder die wunderbaren Tappas der Region genießen können.
"Beängstigende Zeiten für uns, die wir immer weiter kämpfen, um die Pandemie zu besiegen"
Es vergrößert unseren Schmerz zu sehen, dass die Welt noch weit davon entfernt ist, die Pandemie zu besiegen. Wir erleben jeden Tag rund 300.000 Neuinfektionen, hören die Nöte von Kindern, die keine Schule besuchen und größere Gewalt und Ausbeutung erleben. Millionen Menschen haben keine Arbeit mehr und müssen hungern. Familien auf der ganzen Welt verlieren ihre Angehörigen zu früh, so wie wir, unter tragischen Umständen. Es mangelt an globaler Führung, Fehlinformationen grassieren, und die Menschen wollen einfach mit ihrem Leben weitermachen. Dies sind beängstigende Zeiten für diejenigen von uns, die immer weiter kämpfen, um COVID-19 zu besiegen. In Lateinamerika sehen wir, wie selbst Länder mit sozialen Sicherheitsnetzen und nationaler Gesundheitsversorgung am Rande des Zusammenbruchs stehen. Das Virus fasst gerade dort Fuß, wo es den Menschen am schlechtesten geht.
Als globale humanitäre Gemeinschaft, als Zivilgesellschaft, als Menschen, die glauben, müssen wir weiterhin und stärker als je zuvor im Kampf gegen COVID-19 zusammenarbeiten. Wir müssen uns bemühen, den Fokus zu behalten, weiterzumachen, die notwendige Energie und Hoffnung zu finden, auch wenn so viele von uns mit persönlichen Traumata zu kämpfen haben. Es ist keine leichte Arbeit, aber wir werden nicht davor zurückschrecken. Es wird noch mehr Daten geben, die sich in unseren Köpfen festsetzen werden. Eines dieser Daten wird das Ende dieser Pandemie sein, und dann werden wir beginnen zu heilen, in dem Wissen, dass wir unser Bestes getan haben, um darauf zu reagieren.