Große Veränderungen für die Kinder aus Kalkutta
Von Neola D`Souza
Die Taxifahrt in das Rotlichtviertel von Kalkutta dauerte lange und der Taxifahrer fragte dreimal nach, ob ich da auch wirklich hin wollte. Später warnte er mich auch noch mal auf Bengali: „Madam, das ist das Rotlichtviertel, bitte seien Sie vorsichtig!“ Ich erklärte ihm höflich das mir das bewusst ist, das aber World Vision in diesem Viertel arbeitet. Ich fragte mich was durch seinen Kopf ging, als er mich irritiert anschaute und skeptisch die Umgebung musterte. Aber diese Gegend ist eben nicht nur ein Rotlichtviertel, sondern auch das Zuhause von vielen Kindern. Sie wurden in diese Gegend geboren oder mussten mit ihren Müttern in diese Gegend ziehen.
Morgens ist hier noch alles voller Leben, Kinder rennen in die Schule und die Anwohner machen ihre Besorgungen. Aber mit der Dämmerung ändert sich die Stimmung. Die Luft in den schmalen Gassen, die am Morgen noch mit dem Geruch von Obst und Gemüse erfüllt war, ist jetzt schwanger von Alkohol, Drogen und Tabakrauch. Viele Betrunkene stehen in den Hauseingängen oder in Gruppen zusammen und stark geschminkte Frauen warten auf den Gehsteigen auf ihre Kunden. Die engen und dunklen Gassen locken mit warmen und einladenden Lichtern. Ab fünf Uhr nachmittags bis zum frühen Morgen pulsiert das Viertel. Inmitten dieser unsteten Atmosphäre, in den dunklen Ecken und Plätzen der Gegend, kann man vereinzelt auch Kinder sehen.
Veränderungen durch Kinderschutzzentren
Seit 2017 hat sich aber viel verändert. „Unser Ziel ist klar. Wir möchten verhindern das die Kinder von Prostituierten ebenfalls in diesem Gewerbe arbeiten,“ erklärt Joseph Weasley, der Leiter des Anti-Menschenhandel Programmes von World Vision Indien. „Kinder dürfen nicht sexuell ausgebeutet werden. Jeden Tag sehen sie ihre Mütter, die diesem Gewerbe nachgehen, meist in den eigenen Wohnzimmern. Die Kinder werden nicht geschützt und wachsen auf in dem Glauben, dass solch ein Leben normal ist.“ Um dies zu verhindern hat World Vision drei Kinderschutzzentren in dieser Gegend errichtet. Die am Abend geöffneten Zentren sind gut besucht. In nur wenigen Monaten ist die Anzahl der Kinder von 25 auf 75 gestiegen. Im März wurde ein neues Zentrum eröffnet, das sich morgens um die Kinder zwischen zwei und fünf Jahren kümmert.
Riya kann wieder zur Schule gehen
Als ich im Kinderzentrum ankam wurde ich von 50 Kindern mit einem freundlichem Namaste begrüßt. Obwohl der Raum bereits sehr voll war, strömten immer mehr Kinder hinein. Einige von ihnen lasen in Büchern andere konzentrierten sich auf ihre Hausaufgaben und bereiteten sich auf ihre Examina vor. Der Lehrer, der aus der Gegend stammt, lernte geduldig mit einigen Kindern das ABC.
Am anderen Ende des Raumes saß Riya* ich hatte sie bereits am Mittag mit ihrer Mutter getroffen und sie haben mir von ihrem Leben hier berichtet. Riya ist hierhergezogen nach dem sie lange Zeit getrennt von ihrer Mutter gelebt hat. Schon in frühen Jahren musste Riya große Verantwortung übernehmen. Sie konnte nicht zur Schule gehen und hatte keine normale Kindheit. Sie musste ihren alkoholkranken Vater pflegen obwohl er sie immer wieder misshandelte, den kompletten Haushalt ihrer Tante mit sieben Familienmitgliedern führen und in dem Laden ihres Vaters arbeiten. All diese Erlebnisse haben aus ihr ein starkes und sehr weises Mädchen gemacht. „Noch vor ein paar Monaten, dachte ich, ich muss ebenfalls als Prostituierte arbeiten und habe keine Wahl aber jetzt hat sich alles verändert.“
Ich habe das Gefühl, dass ich alles schaffen kann, denn ich kann wieder die Schule besuchen.
Riyas Mutter Latika* hört ihrer Tochter stolz zu, wenn sie von ihren Examina spricht oder über die Tests, für die sie noch lernen muss. Latika stammt aus einer sehr armen Familie aus West Bengal. Ihre Eltern waren Bauern und sie war bereits zweimal verheiratet. Schon mit dreizehn musste sie das erste Mal heiraten aber beide Ehen waren sehr unglücklich. Um dieser Hölle zu entfliehen kam Latika nach Kalkutta, wo ihre ältere Schwester als Prostituierte lebte. Auch Latika hatte keine andere Wahl, um ihre zwei kleinen Kinder zu versorgen, als selbst in der Sexindustrie zu arbeiten.
Sie ließ ihren Sohn in der Obhut ihrer Eltern während Riya bei Verwandten unterkam. Im Haus ihrer Tante wurde Riya sehr schlecht behandelt. „Sie musste alle mögliche Hausarbeit erledigen. Ich habe immer ein wenig Geld für Riya geschickt aber sie haben sie nie in die Schule geschickt, obwohl wir das vereinbart hatten!“, erzählt Latika wütend. Ihre Tante verlangte, sie mit gerade 14 Jahren, zu verheiraten. Aber Latika wollte nicht, dass ihre Tochter das gleiche Schicksal erleiden sollte wie sie. Da ihre Eltern in der Zwischenzeit verstorben waren musste Latika Riya und ihren Sohn zu sich holen.
Das Rotlichtviertel ist kein Zuhause für Kinder
Für Mädchen in Riyas Alter ist es besonders schwierig in dem Rotlichtviertel in Kalkutta. Das Risiko vergewaltigt zu werden oder selbst als Prostituierte arbeiten zu müssen ist hoch. Alle Kinder, die in diesem Viertel leben, brauchen unbedingt ihre Geburtsurkunde, um nachzuweisen das sie nicht entführt wurden und sie wirklich bei ihren Müttern leben. Latika wurde ebenfalls von der Polizei zu Riya befragt und auch ihr Vermieter wollte wissen woher ihre Tochter stammt.
Aber Latika hatte keine Geburtsurkunde von Riya und weil sie nicht in die Schule ging, hatte sie auch keine Schülerkarte, mit der sie sich ausweisen konnte. Latika war verzweifelt und versuchte überall ihre Tochter unterzubringen. Bis sie über eine andere Mutter von dem Kinderzentrum von World Vision hörte. Nachdem sie mit dem dortigen Lehrer gesprochen hatte, wurde Riya sofort in das Projekt aufgenommen.
Für Riya und ihre Familie hat sich viel verändert
Zum Beginn war Riya noch sehr schüchtern und ruhig doch bereits nach kurzer Zeit fand sie neue Freunde und fühlte sich wohl. Ihrem Lehrer entging nicht wie fleißig und wissbegierig Riya war und meldete sie in einer staatlichen Schule an. Der Lehrer sprach ebenfalls mit dem Vermieter und überzeugte ihn das Riya in die Schule geht und die Papiere ebenfalls beantragt sind. World Vision hat ihr all die nötigen Schulmaterialien zur Verfügung gestellt. Damit sie den verpassten Unterrichtsstoff nachholen kann geht sie immer noch jeden Tag in das Kinderzentrum. „Ich mag das Zentrum sehr gerne. Ich finde es schön, wenn wir alle zusammen lernen. Eines Tages möchte ich eine Polizistin werden.“, sagt Riya stolz Auch ihre Mutter hat Hoffnung geschöpft nach elf Jahren in dieser Gegend, wünscht sie sich ein Stück Land oder einen kleinen Laden. Sie träumt davon nicht mehr als Prostituierte arbeiten zu müssen: „Ich mag diese Gegend nicht. Jeder Tag ist schrecklich. Ich weiß nicht wann die Zeit kommen wird, an dem ich mit meinen Kindern in Frieden leben kann.“
Ich hoffe das auch andere Mädchen diese Möglichkeiten erhalten.
Zukunftspläne dank Bildung
Viele Kinder haben, wie Riya, nicht die Möglichkeit eine Schule zu besuchen. Die Kinderzentren versuchen diese Lücke zu schließen und den Kindern wieder einen Zugang zu Bildung zu ermöglichen. Wir wollen noch mehr solcher Zentren eröffnen, um noch mehr Kindern zu unterstützen und mit dem Nötigsten auszustatten. Neben der Möglichkeit dort zu lernen erhalten die Kinder auch psychosoziale Betreuung und etwas zu Essen. In Zukunft sollen noch Berufsvorbereitungskurse für ältere Kinder angeboten werden.
Riya ist sehr dankbar für die Unterstützung, die sie erfahren konnte und möchte unbedingt später das College besuchen: „Ich bin so froh, dass ich die Chance bekommen habe, eine bessere Zukunft zu erhalten.“
*Alle Namen wurden geändert, um die Identität zu schützen