
Weltflüchtlingstag
Zukunft gestrichen: Geflüchtete Kinder hungern und verlassen Schulen
World Vision-Bericht zeigt verzweifelte Lage von Familien durch Kürzungen humanitärer Hilfe: „Wir sind Zeugen einer systematischen Demontage von Kindheit“
Meine Tochter wollte Lehrerin werden, aber jetzt verbringt sie ihre Tage damit, nach Resten zu suchen, die sie auf dem Markt verkaufen kann“. So beschreibt die Mutter eines 12-jährigen Mädchens in einem Flüchtlingslager in Uganda, wie sich finanzielle Kürzungen von humanitärer Hilfe auswirken. Die Ausbildung des Mädchens, größte Chance auf Eigenständigkeit, muss für den Kampf ums tägliche Überleben geopfert werden. Ein im Vorfeld des Weltflüchtlingstags veröffentlichter Bericht der internationalen Kinderhilfsorganisation World Vision belegt die verzweifelte Lage vieler geflüchteter Familien, die weniger oder keine Nahrungsmittel mehr erhalten.
„Wir sind nicht nur Zeugen einer Hungerkrise - wir sind Zeugen einer systematischen Demontage der Kindheit“, sagt Amanda Rives, Direktorin für Katastrophenhilfe bei World Vision International. „Wir sehen, wie Kinder aus den Klassenzimmern in gefährliche Arbeit, frühe Heirat und Ausbeutung gedrängt werden, nur weil sie nicht genug zu essen haben.“ Abhängigkeiten von humanitärer Hilfe würden so langfristig noch verstärkt: „Ein Kind, das hungrig ist, kann nicht lernen. Ein Kind, das arbeiten muss, um seine Familie zu ernähren, kann nicht wachsen. Einem Kind, das mit 13 Jahren zwangsverheiratet wird, wird die Zukunft gestohlen, bevor sie begonnen hat. “
58 Prozent der befragten Familien leiden unter bedrohlichem Hunger
Der World Vision-Bericht stützt sich auf aktuelle Daten aus 13 Krisen-Ländern, darunter Syrien, Bangladesch, Myanmar, Somalia, Äthiopien, Südsudan, Uganda, Mali, die Zentralafrikanische Republik und die Demokratische Republik Kongo. Die Daten weisen auf einen gefährlichen Anstieg von Hunger, Kinderarbeit, Zwangsheirat, Schulabbruch und Kinderhandel hin. Am stärksten betroffen sind Familien, die aufgrund von Konflikten oder Verfolgung ihre Heimat verlassen mussten und für ihre Ernährung auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. Die für 2025 weltweit benötigte humanitäre Hilfe ist aktuell erst zu etwa einem Achtel finanziert, und große Geber haben erhebliche weitere Kürzungen angekündigt oder bereits vorgenommen.
In einer Befragung von geflüchteten Familien und Gastgeber-Familien wurde festgestellt, dass 58 Prozent der Familien unter bedrohlichem Hunger leiden. Fast die Hälfte der Betroffenen gab an, im letzten Monat tagelang nichts gegessen zu haben. Im Südsudan berichteten sogar 97 Prozent der befragten Familien von solchen Entbehrungen. In Äthiopien und der Demokratischen Republik Kongo traf das auf 89 Prozent der Familien zu. Kürzungen bei Nahrungsmittelhilfen stehen in direktem Zusammenhang mit diesem Leid.
Ein Beispiel aus Bangladesch: Rohingya-Flüchtlinge erhielten pro Person im Monat Lebensmittel im Wert von rund 12,50 US-Dollar; diese Hilfe wurde seit Januar um rund die Hälfte auf 6 US-Dollar gekürzt. Inzwischen sind rund 15 Prozent der Kinder in den Flüchtlingscamps unterernährt – der höchste Wert seit 2017.
„Dies ist eine humanitäre Katastrophe im Verborgenen“, sagt Amanda Rives. „Familien, die bereits alles verloren haben, wird nun auch noch die letzte Hoffnung genommen. Das ist gewissenlos!“
Bei unsicherer Ernährung sind Kinder 8 Mal häufiger zu Kinderarbeit gezwungen
Kindern wird durch gekürzte Nahrungsmittel-Hilfen nicht nur das Recht auf Nahrung vorenthalten, sondern vielfach auch die Aussicht auf ein eigenständiges Leben genommen. Die Hälfte aller von World Vision befragten Eltern gab an, dass ihre Kinder nicht mehr regelmäßig zur Schule gehen können, weil sie bei der Nahrungssuche oder beim Geldverdienen helfen müssen. Kinder in Haushalten mit ungesicherter Ernährung sind laut dem Bericht achtmal häufiger zu Kinderarbeit und neunmal häufiger zum Betteln gezwungen. Sie werden auch annähernd sechsmal häufiger früh verheiratet. Das Risiko, Gewalt ausgesetzt zu sein, verfünffacht sich.
World Vision stellt in den Krisengebieten unter anderem Soforthilfe mit Nahrungsmitteln, Schulmahlzeiten und Bargeldhilfen bereit. 2024 erhielten beispielsweise knapp 890.000 Kinder Schulmahlzeiten, die eine gesunde Ernährung und das Lernen fördern. Im Rahmen der weltweiten Kampagne ENOUGH (deutsch: Es reicht!) setzt sich die Kinderhilfsorganisation auch für eine verlässliche Finanzierung von humanitärer Hilfe ein. Besonders im Kontext von Vertreibung müssten die Mittel dringend aufgestockt werden. World Vision arbeitet gleichzeitig mit vielen lokalen und internationalen Partnern darauf hin, Hunger und Mangelernährung dauerhaft zu überwinden.
Weitere Informationen zum Bericht
World Vision hat bereits im letzten Jahr untersucht, wie sich Kürzungen bei der Nahrungsmittelhilfe auf vertriebene und geflüchtete Menschen auswirken. Der aktuelle Bericht mit dem Titel „Hunger, Harm and Hard Choices“ (Hunger, Schaden und harte Entscheidungen) ist eine Fortsetzung und wurde in Zusammenarbeit mit dem Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen erstellt. Mehr als 5 000 Haushalte wurden zwischen Januar und April 2025 befragt, um die Wechselwirkungen zwischen Ernährungsunsicherheit und Bildung, Kinderschutz, psychischer Gesundheit und familiären Bewältigungsstrategien zu untersuchen. Für die Analyse wurden außerdem Gruppen-Diskussionen und Experten-Interviews durchgeführt.
Grund zur Hoffnung geben Beispiele positiver Strategien zur Bewältigung der Krise. So berichtete ein Gesundheitsexperte aus Somalia: „Lokale Gruppen haben sich zusammengeschlossen, um Lebensmittelbanken und Gemeinschaftsküchen einzurichten, die die Verteilung von Lebensmitteln an die Bedürftigsten unterstützen. Es gibt eine ausgeprägte Kultur des Teilens von Lebensmitteln, bei der Familien mit mehr Mitteln ihren Nachbarn helfen.”