Kathryn Tätzsch Nothilfe-Expertin World Vision El Niño Dürre Afrika Swasiland

Interview: Dr. Kathryn Tätzsch über die Auswirkungen von El Niño

„Umdenken hin zu langfristigem Engagement ist das Wichtigste“

Wie wirkt sich El Niño aus?

El Niño heizte das Wasser im Pazifik auf. Während es in Teilen der Welt zu Dürren und Ernteausfällen kam, zogen in anderen Teilen starke Niederschläge Flutkatastrophen nach sich. In einigen Regionen gehören Trockenzeiten zum normalen Klimazyklus. Doch die global ansteigenden Temperaturen haben die Dürre im letzten Jahr zur schlimmsten der letzten Jahrzehnte gemacht.

Inwieweit werden schon vorhandene Probleme durch solch extreme Wetterbedingungen verschärft?

2015 war das heißeste Jahr seit Beginn der Temperaturmessungen. 2016 bricht diesen Rekord sogar. Die üblichen Regen- und Trockenzeiten werden extremer. Einige Länder haben in zwei aufeinander folgenden Jahren Dürren erlebt. Das hat sehr viele Menschen hart getroffen. Kleinbauern und ärmere, nicht gut abgesicherte Familien, konnten sich von vorherigen Dürren kaum erholen. Mit den Folgen der jetzigen Krise werden zahlreiche Haushalte längerfristig zu kämpfen haben: Nahrung ist viel teurer, Wasserquellen sind ausgetrocknet und im besten Fall müssen die Menschen bereits seit letztem Jahr mit rationiertem Wasser leben. 

Viele Familien müssen erheblich Kosten einsparen. Sie lassen Mahlzeiten aus, beschränken sich auf wenige günstige Lebensmittel, nehmen ihre Kinder aus den Schulen oder verkaufen ihren Besitz. Aus neun Ländern im südlichen Afrika, in denen mehr als 40 Mio. Menschen von den Auswirkungen des Klimaphänomens betroffen sind, haben uns Fachleute über die Situation der Kinder berichtet. 80 Prozent der Befragten sagten, dass in ihrer Region Schulabbrüche zugenommen haben, weil Kinder ihren Familien helfen müssen, das Einkommen aufzubessern. Wenn eine solche Krise länger anhält, wächst für Kinder das Risiko, ausgebeutet zu werden. UNOCHA schätzt, dass 2,7 Millionen Kinder im südlichen Afrika auch unter akuter Mangelernährung leiden.

Wer leidet am meisten unter dem Klimaphänomen? Gibt es Regionen, die mit den Auswirkungen besonders gut umgehen?

Zweifellos leiden Familien und Gemeinden, die von Landwirtschaft leben, am stärksten unter Klimakatastrophen. In Afrika sind das rund 70 Prozent der Bevölkerung. Trotzdem haben einige Gemeinschaften eine bemerkenswerte Widerstandskraft bewiesen.

So wurde in Thailand dürreresistentes Reis-Saatgut verteilt, als die ersten El Niño-Warnungen zu vernehmen waren. Dieser Reis ist zwar weniger nährstoffreich als normaler Reis, hatte aber den positiven Effekt, dass die Bauern und ihre Familien etwas zu essen hatten und durch die Dürre nicht ihren gesamten Ertrag verloren haben. In Äthiopien wurde mit der von World Vision unterstützten Renaturierung entwaldeter Landschaften erreicht, dass Wasserquellen neu sprudelten und Böden fruchtbarer wurden. In diesen Regionen gab es kaum Probleme durch die Dürre. Wir verbreiten diese Technik jetzt auch in anderen Regionen Afrikas, um sie besser vor Hunger zu schützen.

Wie effektiv war die bisherige internationale Reaktion auf El Niño? Wie kann man das Leid und Sterben verhindern? 

Die Nöte der Menschen, die von El Niño betroffen sind, sind enorm. Allein Mosambik benötigt laut Unicef rund 22 Millionen Euro Finanzhilfe, um 1,3 Millionen Menschen mit sauberem Wasser zu versorgen. In Regionen mit sehr starken Regenfällen müssen vermehrt auftretende Krankheitsausbrüche bekämpft werden. World Vision gehörte zu den Organisationen, die früh vor der herannahenden Katastrophe gewarnt und zu schnellem Handeln aufgerufen haben. Viele Regierungen und internationale Geber fanden es aber schwierig, finanzielle Mittel und andere Ressourcen bereitzustellen, unter anderem wegen “konkurrierender” großer humanitärer Krisen wie der Syrien-Krise.  

Ein größeres Engagement in Vorsorge- und Resilienz-Programmen, wie in Thailand und Äthiopien, hätte viele Nothilfemaßnahmen überflüssig gemacht. Momentan werden rund 2,2 Milliarden Dollar benötigt, um die akute Not zu bekämpfen. 

World Vision hat zu El Niño eine internationale Task Force eingesetzt, die seit letztem Oktober die World Vision-Teams in den am meisten betroffenen Ländern dabei unterstützt hat, Wettertrends zu beobachten und angemessen zu reagieren. Derzeit leisten 19 Länderbüros von World Vision in Afrika, Asien und Lateinamerika Hilfe zur Bewältigung der Krise. Dabei verfolgen sie einen integrierten Ansatz, der den Menschen nicht nur das Überleben sichert (etwa durch Wasser, Hygiene, Nahrungsmittel und medizinische Behandlung), sondern auch ihre Möglichkeiten zur Selbsthilfe verbessern soll. Konkret können dies Bargeld-Hilfen oder Kleinkredite für Produktionsmittel oder neue Verdienstmöglichkeiten sein, in Trockenregionen auch Bewässerungsprojekte oder Renaturierungsmaßnahmen. 

Warum hat World Vision eine internationale Task Force eingesetzt? Was ist ihre Aufgabe?

Mit gleichzeitig auftretenden Notlagen in so vielen Ländern umzugehen, stellt Hilfsorganisationen vor besondere Herausforderungen. 19 Länder, verteilt über fünf Weltregionen, verzeichneten besonders gravierende Schäden durch El Niño. Die Probleme sind in den einzelnen Ländern unterschiedlich ausgeprägt. Wegen der fehlenden Aufmerksamkeit für die sich langsam anbahnende Krise hat die Task Force viel Arbeit hinter den Kulissen geleistet, um Unterstützung für Hilfsprogramme zu mobilisieren und dafür zu sorgen, dass die verschiedenen Teile der Organisation gut zusammenarbeiten. 

Mit meiner Arbeit unterstütze ich den Informationsaustausch, die Koordination, das Katastrophenhilfe-Management und auch die Zusammenarbeit mit wichtigen anderen Akteuren. Dadurch war ich auch bei einem Zusammentreffen mit der UN-Sonderbotschafterin Mary Robinson Ende August in Swasiland anwesend. Mary Robinson hat sich vor einiger Zeit schon in Honduras aus erster Hand über Auswirkungen von El Niño und über Resilienz-Maßnahmen im sogenannten Trockenkorridor von Zentralamerika informiert. In Swasiland sah sie jetzt, wie einer betroffenen Gemeinde in der unmittelbaren Notsituation mit Wasserlieferungen geholfen wurde. Sie erfuhr auch von den laufenden Bemühungen, langfristige Lösungen zur Wasserversorgung in dieser Region anzubieten.  

Bewohner dieses Gebiets zeigten ihr, wie selbst ein kleiner, aber stetiger Wasservorrat ihnen ermöglicht, Gemüse für den Eigenverbrauch und für den Verkauf auf dem Markt anzubauen. Inmitten einer wüstenähnlichen Landschaft hatten sie einige Quadratmeter Land um ihre Häuser fruchtbar gemacht. Solche Botschaften präsentieren wir auch Regierungsvertretern und der UN-Generalversammlung. Wirksames und effizientes Handeln sind dringender denn je.

Unsere Task Force und die Spezialisten für Resilienz beteiligen sich außerdem an der Erstellung einer Vorlage von Standardprozessen, die von der FAO, anderen UN-Organisationen und Hilfsorganisationen in Zukunft benutzt werden sollen, um Risikoanalysen und Frühwarnsysteme, Koordination und Informationsmanagement, Programme und Finanzierungsmechanismen für schleichende Wetterkatastrophen zu verbessern.

Wie priorisiert World Vision den großen Bedarf an Hilfe und wie wird die Hilfe an die sich verändernden Bedürfnisse angepasst?

Die Weltgemeinschaft verfügt heute über recht gute Frühwarnsysteme. Wichtig ist es auf dieser Grundlage schneller zu handeln. Die Flexibilität, die World Vision in vielen Ländern durch langfristige Entwicklungsprogramme hat, zeigt schon sehr gute Effekte. In einigen Ländern haben wir bis zu 20 Prozent der Jahresbudgets dieser hauptsächlich durch Spenden finanzierten Programme für Krisen-Hilfen genutzt. Das ermöglicht uns, schnell zu handeln. Ebenfalls von Vorteil ist unsere Erfahrung mit Kleinkrediten, die für Überbrückungshilfen genutzt werden. In Malawi haben Bauern diese Kleinkredite zum Kauf von neuem Saatgut benutzt, als der Regen einsetzte. Unsere Zusammenarbeit mit den Mikrofinanzprogrammen von VisionFund bietet uns viele Möglichkeiten, lokale Unternehmer – vom Kleinbauern bis zum Betreiber mittelgroßer Gewerbe – zu stärken und bei der Bewältigung von Krisen zu unterstützen.

Grundsätzlich halten wir es für sinnvoll, lokale Markt- und Schutzmechanismen in die Programme einzubeziehen. Frauen, die in Spargruppen aktiv sind, haben zum Beispiel eher Reserven, um Preissteigerungen bei Konsumgütern zu verkraften. Und indem wir Hilfe in Form von Lohn für Arbeiten an Wasserspeicher-Systemen leisten, leisten wir einen Beitrag zur Vorsorge gegen die nächste Dürre.

Wie können wir dahin kommen, weniger Nothilfe leisten zu müssen?

Entwicklungsarbeit und Katastrophenhilfe müssen Hand in Hand gehen. Viele unserer Wasserprojekte haben erfolgreich Risiken vermindert, die bei Naturkatastrophen auftreten. Die Aufbereitungsanlagen werden von der lokalen Bevölkerung selbst betrieben und instandgehalten – dafür werden Schulungen angeboten. World Vision hat während der Dürren der letzten Jahre in einigen Regionen in Bewässerungssysteme investiert, die durch Wasserspeicher und effiziente Nutzung auch bei wiederholter Trockenheit zumindest Gemüse-und Obstgärten am Leben erhalten konnten. So waren die Menschen dort nicht alleine auf gespendete Lebensmittelrationen angewiesen und konnten sogar noch etwas auf dem lokalen Markt verkaufen. Solche Ansätze müssen vervielfältigt werden. World Vision arbeitet daran, Kleinbauern bessere Zugänge zu Informationen und Märkten zu verschaffen, damit sie bestmögliche Preise für ihre Produkte bekommen.

Welche strukturellen Veränderungen versucht World Vision anzustoßen? Wo könnten Spenden dabei die größte Wirkung entfalten? 

Am wichtigsten ist das Umdenken von kurzfristigem zu langfristigem Handeln. Wir brauchen eine Finanzierung, die das unterstützt. Manche Geber wollen sofort Wirkungen sehen, aber die Programme, die Menschen gegen Katastrophen stärken, haben oft keine sofortige, sichtbare Wirkung. 

Es ist schwierig, Spender davon zu überzeugen, dass sie heute ein Landwirtschaftsprojekt unterstützen müssen, um in sieben Jahren (wenn der nächste El Nino erwartet wird) eine Dürrekatastrophe zu verhindern. Dennoch ist die Unterstützung von Kleinbauern und Kleinunternehmern mit passender Frühwarn-Information, in Kombination mit Vermögensaufbau und Absicherungen (z.B. durch Mikroversicherungen) eine der wichtigsten Maßnahmen mit nachhaltigem Langzeiteffekt. 

Durch die von der Task Force geleitete Arbeit haben wir unser Monitoring verbessert und können besser nach außen darstellen, was wir mit welchen Ansätzen erreichen können. Sogar aus einem schwierigen Umfeld wie Somalia haben wir Belege dafür, dass durch einen in Resilienz und Vorsorge investierten Dollar vier Dollar an Nothilfe gespart werden konnten. Es ist aber nicht so einfach, gut funktionierende Projektmodelle in größerem Maßstab umzusetzen – vor allem in Zeiten, in denen die Öffentlichkeit durch dramatische Krisen wie in Syrien überwältigt wird.

Gibt es eine gemeinsame Vision und Strategie im internationalen Netzwerk der Helfer, um langfristige Lösungen zu finden?

Auf dem ersten Weltgipfel für Humanitäre Hilfe in Istanbul wurden viele konstruktive Ideen vorgestellt. Jetzt arbeiten wir mit anderen daran, sie zu konkreten Plänen zu entwickeln. Es gibt einen Konsens, dass manche Aspekte unserer Arbeit im humanitären Bereich reformiert werden müssen. Das geschieht bereits. Koordiniert wird das mit anderen Organisationen und mit Regierungen. World Vision engagiert sich auch bei Plattformen, die ganz verschiedene Akteure zusammen bringen und kooperiert mit der Wissenschaft, um für den Umgang mit Klimaveränderungen und Katastrophen umfassendere Strategien zu entwickeln.

Wie geht es nach dem Ende von El Nino weiter? Welche Pläne haben Sie für die nächsten Monate?

Wenn in einer Dürre-Region der Regen einsetzt, können wir den Nothilfe-Einsatz noch nicht beenden, denn bis zur nächsten Ernte vergeht noch viel Zeit. Einige Regionen werden wohl in den nächsten Wochen noch Überschwemmungen erleben, während andere noch mit Dürre kämpfen. Die Ernährungssituation vieler Kinder ist besorgniserregend und muss weiter genau beobachtet werden. Die Schwerpunkte unserer Hilfe müssen sich der jeweiligen Situation anpassen und auch nachhaltige Resilienzbildung im Auge haben. Einige unserer Hilfsprogramme laufen noch bis März nächsten Jahres. Ich bin aber davon überzeugt, dass noch viel Hilfe nötig sein wird. Wir werden also versuchen, dafür Unterstützung zu bekommen und unseren Einsatz fortführen, solange es nötig ist.