08.03.2021

Vielfalt macht uns stärker

Gleichberechtigung ist in Krisenzeiten besonders wichtig und zugleich bedroht

Autor: Iris Manner

Die Gleichberechtigung der Geschlechter muss weiter vorangetrieben werden. Gerade jetzt, denn eine globale Krise wie die Corona-Pandemie kann besser bewältigt werden, wenn Frauen als Entscheiderinnen ihre Perspektiven und Erfahrungen einbringen können.  Die Krise offenbart momentan aber auch die bestehenden Ungleichheiten und bedroht sogar die bisherigen Fortschritte. Deshalb müssten Mädchen und Frauen gerade jetzt gezielt gestärkt werden, ist Lara Villar überzeugt. Die Juristin ist Chef-Strategin bei World Vision und zählt damit zu den internationalen Führungskräften.  In diesem Interview gibt sie Einblicke in ihre persönlichen Erfahrungen und nennt Beispiele für konkrete Maßnahmen von World Vision.

Lara Villar, World Vision-Partnership Leader Strategy
Lara Villar

Was ist dein größter Wunsch an diesem Weltfrauentag und für dieses Jahr?

Ich wünsche allen Mädchen, dass sie ihre Ausbildung fortsetzen können und ihre Träume und Hoffnungen niemals aufgeben. Das letzte Jahr war sehr hart für Kinder, und die Krise ist noch nicht überstanden. Viele Lebensentwürfe talentierter Mädchen sind wegen gestiegener Armut, Teenager-Schwangerschaften und der Zunahme von Kinderheiraten sehr in Gefahr oder schon zur Fata Morgana geworden. Jedenfalls sind Millionen Mädchen einem erhöhten Risiko ausgesetzt, die Schule für immer zu verlassen. Den Frauen wünsche dieses Jahr vor allem, dass sie seelisch und körperlich gesund bleiben, denn Frauen tragen weltweit die Hauptlast der wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Corona-Pandemie. 

World Vision-Mitarbeiterin im Gespräch mit einer Rohingya-Mutter
Nothilfe-Einsatz in Bangladesch - Hausbesuch bei einer Rohingya-Muttern
Projektbesuch von World Vision-Mitarbeiterin Lara Villar  in Myanmar
Lara Villar betrachtet zusammen mit der Mutter Hausaufgaben eines Kindes in Myanmar

Wo zeigen sich die Ungleichheiten gerade am stärksten und was bewirken sie?

Männer und Frauen sind von einer Krise immer unterschiedlich betroffen - da bildet die Corona-Pandemie keine Ausnahme. Sie hat weltweit die nach wie vor bestehenden Ungleichheiten offenbart, besonders in patriarchalischen Gesellschaften. Frauen arbiten an vorderster Front an der Bewältigung der Krise mit - als Mütter, im Gesundheits-und Pflegebereich oder als Lehrerinnen und Sozialarbeiterinnen. Sie sind aber in den Entscheidungsebenen schwach repräsentiert.

Die ganze Welt hat mit der wirtschaftlichen Repression als Folge der Krise zu kämpfen, aber Frauen sind besonders stark betroffen, weil ihre Jobs im informellen Sektor am wenigsten abgesichert und durch die Abriegelungen stark eingeschränkt sind. Da musste die allein erziehende Mutter aus Kambodscha ihren Lebensmittel-Verkauf auf der Straße beenden oder die Wäscherin aus Kenia bekam keine Aufträge mehr. Und auch die Textilarbeiterin aus Bangladesch verlor ihren Job und bekam kein Arbeitslosengeld. Das hat viele ihre Selbständigkeit gekostet und ihre gesellschaftliche Freiheit noch weiter eingeschränkt. 

Gleichzeitig ist die Welt jetzt digitaler geworden, aber beim Zugang dazu gibt es eine große Kluft zwischen Männern und Frauen. Diese digitale Kluft zwischen den Geschlechtern,  etwa beim Zugang zum Internet, ist in den am wenigsten entwickelten Ländern der Welt mit 39,2 % am größten und in Südasien am stärksten ausgeprägt, wo Frauen mit 26 % geringerer Wahrscheinlichkeit ein Mobiltelefon besitzen als Männer. Darüber hinaus halten Stereotypen (Technologie ist was "für Jungs") und die Angst, diskriminiert zu werden, Mädchen davon ab, digitale Werkzeuge zu nutzen.

Frauen und Mädchen werden in der Krise auch häufiger Opfer von häuslicher und sexueller Gewalt. Mädchen vermissen schmerzlich die Schule als Schutzraum und werden in alte Rollenmuster zurück gedrängt, und wir sehen einen alarmierenden Anstieg bei Kinderheiraten. 

Wenn man all diese Entwicklungen zusammen betrachtet, wird klar, dass die Gleichberechtigung nicht nur akut in Gefahr ist, sondern langfristige Rückschläge zu erwarten sind - wenn nicht sehr entschieden gegengesteuert wird.

Durch welche Maßnahmen können wir Mädchen und Frauen in dieser Krise stärken?  
 

Wir kombinieren Hilfen in mehreren Bereichen, um auf die Bedürfnisse der Kinder, Familien und Gemeinschaften einzugehen. Wo Frauen und Männer ihre Lebensgrundlagen verloren haben, erleichtern als Nothilfe zum Beispiel Nahrungsmittel-Hilfen die Versorgung der Familien. Besonders schwangere Frauen und allein stehende Mütter mit Kindern haben wir mit Priorität unterstützt, da sie sonst sehr schnell an Unterernährung leiden würden. Wir unterstützen außerdem das lokale Krisenmanagement dabei, die besonderen Schutzbedürfnisse von Frauen und Mädchen zu erfassen und darauf einzugehen.

Viele unserer Länderbüros haben Aufklärung zu geschlechtsspezifischer Gewalt geleistet und sich darüber hinaus etwas einfallen lassen, um den Familien bei der Stress-Bewältigung zu helfen bzw. die mentale Gesundheit zu fördern. In die Familien hinein zu schauen, ist während einer Pandemie natürlich schwieriger als sonst. Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben aber viele Kommunikationsmittel und unsere starke lokale Basis genutzt, um Kontakt zu halten und bei Bedarf einzugreifen. 
 

Ein Mädchen nimmt Lernmaterial von World Vision entgegen.
Direkte Unterstützung von Bildung - wie hier mit Büchern und Lernmatierlal - muss durch Förderung eines inklusiven Umfelds ergänzt werden.

Mädchen profitieren davon, dass World Vision schon vor der Krise viele Eltern, Lehrkräfte, religiöse Führer und auch Kindergruppen für ihre Rechte sensibilsiert hat. Die Kindergruppen sprechen viele Themen an, und wir haben zahlreiche Beispiele aus Projekten, in denen diese Gruppen helfen, zum Beispiel Kinderheiraten zu verhindern. World Vision arbeitet mit einem systemstärkenden Ansatz, d.h. es wird sichergestellt, dass es ein gutes Bewusstsein für Missbrauch in der Gemeinschaft gibt und dass die richtigen Prozesse eingehalten werden, um dagegen vorzugehen. 

Ich denke, dass wir auch durch Zusammenarbeit mit Frauengruppen bei der Planung und Durchführung von Programmen dazu beigetragen haben, den Einfluss der Frauen zu stärken. Die Erfahrungen der letzten Monate lehren uns aber auch, dass wir noch mehr Flexibilität beim Einsatz von Geldmitteln brauchen, um gezielt besonders bedürftigen Menschen zu helfen, die außerhalb unserer bestehenden Projekte leben, etwa in Großstädten. 

Was motiviert dich persönlich, dich für die Gleichstellung von Mädchen und Frauen einzusetzen?
 

Schon als junges Mädchen hat mich das Konzept der Gerechtigkeit interessiert und ich träumte davon, die Schwächsten der Gesellschaft zu verteidigen. Ich wurde Juristin und habe mich auf Menschenrechte spezialisiert. In meiner beruflichen Laufbahn habe ich in Kontexten extremer Armut gearbeitet und habe aus erster Hand die herzzerreißenden Ungerechtigkeiten erlebt, die schutzbedürftige Mädchen und Frauen tagtäglich erfahren. Dadurch habe ich den Einfluss der Geschlechter-Dynamik auf die Entwicklung von Gesellschaften immer tiefer verstanden. Schließlich wurde ich Mutter, während ich in einer leitenden Position arbeitete, mit all den Herausforderungen, die das mit sich bringt. Von diesem Moment an ist mein Interesse für die Rechte der Frauen und meine Leidenschaft für Gender-Fragen exponentiell gewachsen.

Die Welt hat vor kurzem die Amtseinführung von Kamala Harris als US-Vizepräsidentin gefeiert, und es gibt in einigen Ländern inzwischen auch Präsidentinnen, zum Beispiel in Äthiopien. Haben wir es bald geschafft, die Gleichstellung der Geschlechter durchzusetzen?

Es geht langsam voran, würde ich sagen. Seit 2012 habe ich Führungspositionen bei Non-Profit-Orgnisationen inne. In den ersten Jahren war ich die einzige Frau in einer großen Gruppe von männlichen Führungskräften und Vorstandsmitgliedern, was ziemlich überwältigend war, aber im Laufe der Jahre habe ich Fortschritte bei der Suche nach mehr Vielfalt und bei der Förderung der weiblichen Vertretung in Führungspositionen gesehen. Ich bin optimistisch, dass sich die Chancen für Frauen noch weiter verbessern werden, aber wir brauchen - global gesehen - mehr Maßnahmen, um den langsamen Trend zu beschleunigen. Sonst werden wir mehr als 30 Jahre warten müssen, um eine globale Geschlechterparität auf diesem Niveau zu erreichen. Und selbst dann wird sich die tatsächliche Parität wahrscheinlich auf die wenigen Länder konzentrieren, die derzeit konzertierte Anstrengungen unternehmen, so dass mehrere Regionen der Welt zurückbleiben. Geschlechtsspezifische Vorurteile sind immer noch eine große Sache, ich erlebe sie ziemlich oft. Wir müssen weiterhin Maßnahmen ergreifen, die ein Umdenken fördern, wir müssen die Stereotypen überwinden.



Welchen Unterschied macht ein höherer Anteil weiblicher Führungskräfte und Entscheiderinnen?
 

Wenn man Vielfalt in der Repräsentation hat, nicht nur in Bezug auf das Geschlecht, sondern die Vielfalt im weiteren Sinne, dann sind die Entscheidungen, die die Gruppe trifft, besser. Es werden mehr Perspektiven und unterschiedliche Erfahrungen berücksichtigt. Abgesehen davon ist es Ausdruck einer gerechteren Welt. Niemand sollte ausgeschlossen werden von Teilhabe und Entscheidungen. 


Welchen Beitrag kann eine internationale Strategie leisten, um Gleichberechtigung zu erreichen?

Eine Strategie führt uns dahin, das Ziel in allen Arbeitsbereichen zu verankern und Erfolge zu messen. In unserer Strategie bis 2030 richten wir den Fokus auf die am stärksten verwundbaren Menschen. Mädchen und Frauen sind Teil dieser Gruppen. Wir schauen zusammen mit den Betroffenen auf die Faktoren, die Geschlechterungleichheit und soziale Ausgrenzung aufrechterhalten. Dann arbeiten wir mit ganzen Gemeinschaften - Frauen, Mädchen, Männern und Jungen - zusammen, um diskriminierende Praktiken gemeinsam zu verändern. Wir arbeiten auch mit religiösen Führern auf der ganzen Welt zusammen, um geschlechtsspezifische Ungerechtigkeiten in ihren Gemeinschaften zu erkennen und dagegen vorzugehen. Durch Partnerschaften vergrößern wir unsere Reichweite und Wirkung, auch in Krisenzeiten. 

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