Hintergrund
In der Psychologie und Sozialen Arbeit beschreibt das Konzept der Resilienz, die Fähigkeit von Menschen, Krisen oder schwierige Lebensumstände durch den Rückgriff auf persönliche und soziale Ressourcen bewältigen zu können. Typische Resilienzfaktoren sind dabei beispielsweise ein positives Selbstkonzept, Selbstwirksamkeit, sichere Bindungen und eine gute Problemlösefähigkeit. In der Forschung ist bereits seit vielen Jahren bekannt, dass auch Religiosität und Spiritualität in einem positiven Zusammenhang mit psycho-sozialer Resilienz stehen kann, wobei dies bisher in erster Linie für Erwachsene erforscht wurde.
Da geflüchtete Kinder häufig aus Kontexten stammen, in denen die Mehrheit der Bevölkerung religiös ist, gehen wir in unserer aktuellen Studie „Flucht, Religion, Resilienz“ der Frage nach, welche Bedeutung der individuelle Glaube und die Einbindung in Religionsgemeinschaften für die Resilienz dieser Kinder angesichts ihrer vielfachen Belastungen von Flucht und Integration hat. Diese Studie wird in Zusammenarbeit mit Frau Prof. Dr. Britta Konz, Universitätsprofessorin für Religionspädagogik an der TU Dortmund, durchgeführt. Wie schon bei der Studie 2016 kooperieren wir für die Erhebung der Interviews mit der „Flüchtlingsambulanz“ im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) unter der ärztlichen Leitung von Frau Dr. Areej Zindler.
Die Studie basiert auf einem qualitativen Forschungsdesign, bei dem mit muslimischen, christlichen und ezidischen Kindern aus unterschiedlichen Herkunftskontexten in einem ca. ein- bis eineinhalbstündigen Interview über ihre Glaubensvorstellungen und Glaubenspraktiken gesprochen wird. Das Untersuchungsinteresse richtet sich dabei zum einen auf den Zusammenhang von Religiosität und Resilienz bzw. Vulnerabilität, zum anderen auf die soziale Funktion von Religion im Kontext von Flucht und gesellschaftlicher Integration. Ergänzend führen wir mit den Eltern der Kinder Interviews, um Details über die Flucht aber auch die elterliche Perspektive auf die religiöse Erziehung in der Familie zu erfahren. Die von uns interviewten Kinder sind zwischen 5 und 16 Jahren alt, stammen aus dem Iran, Irak, Afghanistan und Syrien und sind zwischen 2013 und 2017 nach Deutschland gekommen. Die Ergebnisse der Untersuchung werden im Frühjahr 2020 präsentiert.
Für die Durchführung der Interviews muss dabei eine interreligiöse Technik verwendet werden, die Kinder dazu motiviert, möglichst unbeeinflusst von religiösen Normen über ihren individuellen Glauben zu sprechen und das Interview keinesfalls als Wissenstest oder Glaubensprüfung zu empfinden. Nach einem allgemeinen Gespräch mit den Kindern zu ihrer Religionszugehörigkeit und ihren Glaubenspraktiken erzählen wir ihnen eine Geschichte, in der eine alte Frau in Not gerät und zu Allah bzw. Gott bzw. Xweda betet. Anschließend werden die Kinder gebeten, die Geschichte zu Ende zu erzählen und sich dabei zu überlegen, was Inhalt des Gebets sein könnte und ob Allah/Gott/Xweda der Frau geholfen hat. Diese Methode zeigt einerseits, welche Vorstellungen sie von Allah/Gott/Xweda und seinen Möglichkeiten, in das menschliche Schicksal einzugreifen, haben. Andererseits bietet diese Methode einen guten Anknüpfungspunkt, um die Kinder zu fragen, ob sie auch schon mal in einer schwierigen Situation waren, in der sie gebetet haben. Der Großteil der Kinder, die wir bisher interviewt haben, hat, ohne vorher für ein bestimmtes Thema sensibilisiert worden zu sein, spontan mit einer Erzählung zur Fluchterfahrung oder ihrer Lebenssituation in einem Wohnheim für Geflüchtete geantwortet. Ein typisches Beispiel ist das Interview mit der 14jährigen Muslima Maryam aus Afghanistan, die seit ihrer Ankunft in Deutschland vor zweieinhalb Jahren mit ihren sechs Geschwistern und Eltern in verschiedenen Wohnheimen untergebracht war bevor die Familie in eine Gemeinschaftsunterkunft mit zwei eigenen Zimmern zog:
„Als wir im Heim waren, da ging es uns schlecht, und da haben wir immer die ganze Zeit gebetet, dass wir ein schönes Leben wollen und nicht mehr im Heim, an so einem lauten Ort. Also jetzt sind wir Gott sei Dank in einer Unterkunft, hier können wir sehr gut kochen und es ist besser als ein Heim. […] aber wir möchten auch bald eine Wohnung finden.“
Um mehr über die persönliche Beziehung der Kinder zu Allah/Gott/Xweda zu erfahren, haben wir ihnen zudem ein Kästchen mit bunten Fäden überreicht und sie gebeten, je einen Faden für Allah/Gott/ Xweda und sich selbst auszuwählen und diese beiden Fäden entsprechend ihrer Beziehung zueinander auf einem Blatt Papier zu drapieren. Viele Kinder erklären dabei, dass ihr Muster zeige, wie Allah/ Gott/ Xweda über sie wache, in ihrem Herz wohne oder an ihrer Seite stehe. Auch diese Methode bietet damit einen Anlass, mit den Kindern darüber zu sprechen, wie ihnen diese Beziehung durch schwierige Phasen in ihrem Leben hilft. Die 13jährige Christin Pegah, die aus dem Iran stammt, sagt: „Gott macht mich mutig. Wenn ich Angst habe, dann gibt er mir Mut. […] Dann hilft er mir und zeigt mir den Weg.“ Kennzeichnend für die komplexe Lebenssituation geflüchteter Kinder ist, dass sie in ihren Interviews absolute Notsituationen, wie die Flucht mit dem Boot über das Mittelmeer, und typische Szenarien aus dem schulischen Erfahrungsraum als Anlässe für Gebete nebeneinanderstellen können. Viele Kinder erzählen, dass sie vor Klausuren in der Schule zu Allah/Gott/Xweda beten, da ihnen das Gebet hilft, ihre Nervosität zu überwinden. Dies zeigt, dass auch Kinder schon in der Lage sind, sich den Glauben aus ihrer Lebenswelt heraus zu erschließen und religiöse Fragen mit ihren alltäglichen Erfahrungen zu verbinden. Dass sich besonders am Übergang zwischen Kindheit und Jugend Vorstellungen von Allah/Gott/Xweda verändern können, wird in dem Interview der ezidischen Brüder Roshdar und Sado deutlich, die aus dem Irak stammen. Während der 9jährige Roshdar fest davon ausgeht, dass Xweda Menschen bestraft, die böse Dinge machen, äußert der 13jährige Sado angesichts der andauernden Bedrohung durch den islamischen Terror Zweifel daran:
Roshdar: Bestraft Menschen, wenn sie böse Dinge machen.
Interviewerin: Ok. Was macht er da?
Roshdar: Der sorgt dafür, dass die nicht das machen können, was sie wollen.
Sado: […]Meint das, dass er dann jeden bestraft?
Roshdar: Nein nur bösen Menschen. Wenn man was Böses macht.
Sado: Achso, ok.
Übersetzer: Stimmst du dem zu? Nicht jedem, aber den bösen? […]
Sado: Ja… nicht alle. Glaube ich.
Übersetzer: Warum nicht?
Sado: Weil die IS machen immer weiter und wird dann mit denen nix passiert.
Der individuelle Glaube unterliegt den so-genannten psychosozialen „Entwicklungsaufgaben“ der persönlichen Reifung von der Kindheit zum jungen Erwachsenenalter. Gerade wenn Kinder mit einschneidenden, existentiellen Lebenserfahrungen konfrontiert sind, kann dies bedeuten, dass sie ihre bisherigen eher mythisch-wörtlichen Glaubensvorstellungen in Frage stellen und durch Prozesse der religiösen Sinnfindung gehen.
Auch wenn die von uns interviewten Kinder verschiedenen Religionen angehören und ihre Religion ganz unterschiedlich intensiv praktizieren, zeigt sich, dass sie doch ähnliche Beziehungen zu Allah, Gott oder Xweda beschreiben. So gehen sie davon aus, dass er sie liebt und möchte, dass es ihnen gut geht. Gerade für Kinder, die sich darüber bewusst sind, dass sie in ihren Herkunftskontexten Verwandte, Freund*innen und Nachbar*innen unter oft schwierigsten Lebensbedingungen zurücklassen mussten, ist diese positive Glaubensvorstellung von großer Bedeutung, um einen neuen Lebensabschnitt in Deutschland beginnen zu können. Der Glaube an einen beschützenden Allah, Gott oder Xweda hilft ihnen positive Zukunftsgedanken zu fassen und dadurch handlungsfähig zu bleiben.
Viele der von uns interviewten Kinder verfügen über eine Fähigkeit, die man als Diversitätskompetenz bezeichnen könnte, indem sie zugleich eine positive Identifikation und einen Selbstwert aus ihrer eigenen Religionszugehörigkeit schöpfen, aber auch die Religion anderer wertschätzen können. Sie pflegen enge Freundschaften zu Kindern einer anderen Herkunft oder Religion und können dabei sprachliche, weltanschauliche und lebenspraktische Unterschiede problemlos überwinden. Gleichzeitig stellen wir aber auch fest, dass ein Großteil der von uns interviewten Kinder bereits Erfahrungen mit religiöser oder ethnischer Diskriminierung gemacht hat. Dies kann dabei sowohl von fremden Personen (meist Erwachsenen) im öffentlichen Raum, Erwachsenen in Bildungsinstitutionen (Lehrer*innen, Erzieher*innen, etc.) oder von Mitschüler*innen ausgehen. Hierbei handelt es sich in erster Linie um verbale Angriffe, die eine nicht zu unterschätzende Auswirkung auf das emotionale Wohlbefinden der Kinder haben, teilweise (oft abhängig vom Wohnort) fühlen sich geflüchtete Kinder und ihre Eltern aber auch in Bezug auf ihre körperliche Sicherheit bedroht.
Das Ziel unserer aktuellen Studie zum Zusammenhang von Flucht, Religion und Resilienz ist es ein tieferes Verständnis und politische Aufmerksamkeit für die besondere psycho-soziale Belastungssituation geflüchteter Kinder und Jugendlicher in Deutschland und ihren vielfältigen Ursachen zu entwickeln. Weiterhin soll die Studie dazu dienen, Erkenntnisse zu gewinnen, wie Kinder und Jugendliche darin unterstützt werden können, ihren individuellen Glauben als persönliche Resilienzressource zu mobilisieren. Wir gehen davon aus, dass Ergebnisse dieser Studie nicht auf den Fluchtkontext begrenzt sind, sondern für die Situation von Kindern in anderen vulnerablen Lebenssituationen übertragbar sind. Hiermit knüpfen wir an die erfolgreichen WV-Programme der glaubensbasierten Entwicklungsarbeit, wie „Channels of Hope“ und „Celebrating Families“, an, indem die Bedeutung religiöser (Persönlichkeits-) Bildung zur Stärkung von Kinder und Jugendlichen als Bestandteil der Entwicklungszusammenarbeit und Humanitären Hilfe in den Blick genommen wird.