Afghanistan humanitäre Hilfe

Afghanistan: Zeitfenster für wirksame Hilfen wird sich bald schließen

Krise in Afghanistan entwickelt sich zur schlimmsten humanitären Krise weltweit

Kabul / Berlin, 11. Januar

Die Vereinten Nationen stellen heute zusammen mit Hilfsorganisationen ihre Hilfspläne für Afghanistan vor. Asuntha Charles, Landesdirektorin von World Vision Afghanistan, bestätigt nach Besuchen in mehreren Provinzen, dass sich die humanitäre Lage im Land gerade bedrohlich verschlechtert, und zwar sehr schnell. „Mütter und Väter verkaufen alles, sogar ihre Organe, damit die Kinder überleben. Trotzdem müssen sich kleine Kinder schon die Krankenhausbetten teilen und sterben an Unterernährung. Die Bedingungen, denen die Menschen tagtäglich ausgesetzt sind, müssten die Welt erschüttern, und die internationale Gemeinschaft hat in Afghanistan eine Verantwortung, die grundlegendsten Menschenrechte zu schützen.“

24,4 Millionen Menschen – mehr als die Hälfte der Bevölkerung – werden nach UN-Angaben in diesem Jahr humanitäre Hilfe benötigen, rund 30 Prozent mehr als im vergangenen Jahr. In allen 34 Provinzen des Landes ist die Ernährungslage kritisch, in einigen Provinzen bereits katastrophal. Hierzu beigetragen hat neben den lang andauernden Konflikten und dem Wegfall internationaler Hilfen seit der Machtübernahme der Taliban auch die schlimmste Dürre der letzten 27 Jahre.

"Es ist hier wie in der Hölle", sagte eine Frau zu Asuntha Charles über den Zustand des staatlichen Krankenhauses, das sie aufsuchte, um Hilfe für ihren ausgezehrten kleinen Jungen zu bekommen. Das Baby war zu schwach, um die Augen zu öffnen oder auch nur zu schreien; es lag auf mangels freiem Bett auf dem Boden und kämpfte darum, Luft in seine kleine Lunge zu bekommen. Wenn die derzeitige Situation anhält, werden laut UN-OCHA 1,1 Millionen akut unterernährte Kinder unter fünf Jahren keinen Zugang zu Behandlungsdiensten haben und bis zu 131.000 Kinder könnten im Jahr 2022 sterben. 

Zur Finanzierung der dringendsten Hilfen muss die internationale Gemeinschaft 4,44 Mrd. US-Dollar aufbringen. Abgesehen von Finanzzusagen benötigen vor Ort arbeitende Organisationen allerdings auch internationale diplomatische Unterstützung, um Hindernisse für Hilfen zu beseitigen. Asuntha Charles erklärt dazu: "Unsere Arbeit wird zwar von Regierungen gefördert, aber gleichzeitig durch die Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung, insbesondere durch Sanktionen, und damit auch den Zugang zu Finanzmitteln, stark eingeschränkt. Die zugesagten Finanzmittel müssen vor Ort zur Verfügung stehen.“ 

Die Bundesregierung und andere Geber sollten zudem ihre Verhandlungsmöglichkeiten nutzen, um langfristige Verbesserungen zu erreichen und einem weiteren Kollaps der gesamten Grundversorgung entgegen zu arbeiten, fordert World Vision. „Das Zeitfenster dafür wird nicht ewig offen sein“, warnt Ekkehard Forberg, Themenmanager Friedensförderung und Humanitäre Hilfe von World Vision Deutschland e.V. “Diejenigen, die bereits leiden, müssen nun mehrere eisige, manchmal brutale Wintermonate überstehen, ohne ausreichend Nahrung und ohne Möglichkeit, sich warm zu halten. Die humanitäre Gemeinschaft muss ihre Aktivitäten ausweiten und dafür sorgen, dass jetzt ungehindert mehr Hilfe ins Land kommt. Die Kinder in Afghanistan können nicht warten. Sie brauchen Unterstützung, und zwar heute.“