Syrisches Mädchen lehnt seinen Kopf an eine Wand
Dara* (13) lebt wie viele syrische Kinder seit Jahren getrennt von Familie und Freunden, die sie einst in Aleppo hatte. Sie hofft eines Tages Lehrerin werden zu können, aber jetzt geht es ums Überleben. Foto: Syria Relief and Development

Syrien: 10 Jahre Krieg kosten Billionen bis in nächste Generation

•    Bericht von World Vision und Frontier Economics schätzt die wirtschaftlichen Kosten des Konflikts auf bisher über 1,2 Billionen US-Dollar.

•    Selbst wenn der Krieg heute enden würde, kämen bis 2035 weitere akkumulierte Kosten von ca. 1,7 Billionen US-Dollar nach heutigem Geldwert hinzu.

•    Zehn Jahre Krieg haben die Lebenserwartung der syrischen Kinder insgesamt um 13 Jahre verringert.

Amman/Friedrichsdorf, 04. März 2021

In zehn Jahren hat der Syrien-Konflikt mehr als 600.000 Todesopfer gefordert und schätzungsweise 13 Millionen Menschen vertrieben – mehr als die Hälfte der syrischen Bevölkerung vor dem Krieg. Die internationale Kinderhilfsorganisation World Vision hat nun in Zusammenarbeit mit Frontiers Economics einen Bericht veröffentlicht, der auch die wirtschaftlichen Kosten des Konflikts in Syrien abbildet. Nach  zehn Jahren Krieg belaufen sich diese geschätzt auf über 1,2 Billionen US-Dollar (1). Weitere 1,7 Billionen US-Dollar akkumulierte Folgekosten kommen bis 2035 hinzu – unter der günstigsten Bedingung, dass der Krieg heute beendet würde.

Der Bericht „Ein zu hoher Preis: die Kosten des Konflikts für Syriens Kinder“ ("Too high a price to pay: the cost of conflict for Syria's children") untersucht die Auswirkungen, die zehn Jahre Krieg auf Syriens Wirtschaftskraft (in BIP) und auf die Kapazitäten der Menschen – das Humankapital - des Landes, hatten. Einen besonderen Fokus legte die Untersuchung auf die Situation der Kinder und Jugendlichen. Die Ergebnisse zeigen, dass der heranwachsenden Generation durch verlorene Bildung und Gesundheit entscheidende Handicaps zugefügt wurden, einschließlich einer um 13 Jahre verringerten Lebenserwartung.

Christoph Waffenschmidt, Vorstandsvorsitzender von World Vision Deutschland, dazu: „Wir liefern mit diesem Bericht ein weiteres Argument dafür, warum die Welt es nicht zulassen sollte, dass ein Krieg über 10 Jahre wütet, die Kinder ihrer Grundrechte beraubt und ihre Zukunftsperspektiven zerstört: es entstehen schwindelerregende, generationsübergreifende Kosten. Und es steht fest: ohne bedeutende, nachhaltige Hilfen werden die Kinder nicht in der Lage sein, den Wiederaufbau des Landes wirksam zu unterstützen, sobald der Krieg beendet ist.“

Worst-Case-Berechnungen von 2016 bestätigt

World Vision und Frontier Economics veröffentlichten vor 5 Jahren bereits einen Bericht, der davor warnte, dass die wirtschaftlichen Kosten von über 275 Milliarden US-Dollar im schlimmsten Fall bis zum Jahr 2020 auf 1,3 Billionen US-Dollar ansteigen könnten. Die neuesten Untersuchungen zeigen, dass diese Hochrechnungen richtig waren. Bis zum Jahr 2035 werden laut dem aktuellen Bericht außerdem zusätzliche ökonomische Kosten in Höhe von 1,4 Billionen US-Dollar anfallen.

Durch die negativen Auswirkungen des Krieges auf die Gesundheit und die Bildung von Kindern erhöhen sich die noch zu erwartenden Kriegskosten zudem auf 1,7 Billionen US-Dollar nach jetzigem Geldwert. Waffenschmidt: „Was man nicht allein in diesen nüchternen Zahlen ausdrücken kann: die wahren Kosten für die betroffenen Kinder und damit die kommende Generation erfasst man erst, wenn man die traumatischen Erfahrungen, entgangene Schuljahre und den Verlust medizinischer Versorgung sowie ihre geringen Chancen auf einen guten Arbeitsplatz und zerbrochene Träume hinzurechnet. Die Auswirkungen dieser Kosten werden sowohl die wirtschatliche Erholung des Landes vom Krieg als auch die gesellschaftliche Erholung verlangsamen.“

Kinder im Kreislauf der Gewalt gefangen

Täglich sähen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen vor Ort Kinder in Syrien, die hungrig sind und frieren. Viele Kinder seien zutiefst verstört durch das, was sie gesehen und erlebt haben. Durch behutsame Therapie und Betreuung versuchten sie denen zu helfen, die beispielsweise aus Angst vor dem Krieg das Laufen verlernt oder sich wegen entstellender Wunden ganz zurück gezogen haben. Bomben-Typen zu bennen fiele vertriebenen Mädchen und Jungen teilweise leichter als ihren Namen zu schreiben. „Wir dürfen nicht zulassen, dass sie in diesem Kreislauf der Gewalt gefangen bleiben“, betont Christoph Waffenschmidt. Mit einer Umfrage unter fast 400 syrischen Kindern und jungen Erwachsenen in Syrien, Libanon und Jordanien untermauert World Vision in dem Bericht Erkenntnisse über die enormen menschlichen Kosten des Konflikts.

  • Syrien steht unter allen Konfliktgebieten an erster Stelle, was die Zahl der Angriffe bzw. Bombenabwürfe auf Schulen und Gesundheitseinrichtungen betrifft. Der Krieg ist einer der tödlichsten und zerstörerischsten: Die Lebenserwartung von Kindern ist insgesamt um 13 Jahre gesunken. Schätzungsweise 82 Prozent der Kinder, die von bewaffneten Gruppen rekrutiert wurden, wurden in direkten Kampfeinsätzen eingesetzt – 25 Prozent der Kinder waren unter 15 Jahre alt.
  • Seit Beginn des Konflikts wurden schätzungsweise 55.000 Kinder getötet (2), einige durch Hinrichtung oder durch Folter. (3)
  • Jedes einzelne Mädchen, das World Vision im Nordwesten Syriens befragte, lebt mit der Angst vergewaltigt bzw. sexuell missbraucht zu werden. (4)
  • Kinderheirat, die zu erheblichen physischen und psychischen Schäden und Missbrauch führen kann, hat auf ein alarmierendes Niveau zugenommen (5).
  • Alle befragten Kinder wünschten sich vor allem eines: Frieden.

„Ich habe in der ganzen Region Kinder getroffen, deren Leben durch den Konflikt zerstört wurde. Sie haben geliebte Menschen verloren, können nicht zur Schule gehen, betteln auf der Straße und sind an den Orten, wohin sie geflohen sind, neuen Bedrohungen durch Gewalt ausgesetzt“, so Andrew Morley, Präsident von World Vision International.

Der Bericht hält zudem fest, dass die Beendigung des Krieges, begleitet von einer inklusiven, repräsentativen politischen Lösung der Krise, der einzige Weg ist, um weitere wirtschaftliche und menschliche Kosten zu vermeiden. „Die wirtschaftlichen Kosten sind verheerend, und die Kinder zahlen weiterhin den Preis dafür. Wir brauchen politischen Willen, finanzielle Unterstützung und ein kollektives Commitment für Frieden und Sicherheit“, so Andrew Morley. „Wir müssen jetzt handeln, damit die Hoffnung nicht verlorengeht.“

Fußnoten:
(1)    Die Auswirkungen auf das BIP werden in Kaufkraftparitäten (KKP) ausgedrückt, die die Produktion in Bezug auf einen vergleichbaren Warenkorb standardisieren.

(2)    Die Statistiken variieren: Aufgrund der vorherrschenden Bedingungen in Syrien können keine genauen unsd einheitlichen Angaben zu Toten, Verletzten und Zerstörungen gemacht werden.

(3)    UN-Sicherheitsrat. "Report of the Secretary-General on Children and Armed Conflict in the Syrian Arab Republic" (S/2018/969) para. 29

(4)    World Vision, März 2020 Bericht "Northwest Syria Gender Analysis A Comprehensive Gender and Age Analysis for the Northwest Syria Humanitarian Response"

(5)    World Vision 2020 Bericht "Stolen Futures: Krieg und Kinderheirat in Nordwestsyrien"

 

 

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Bericht  zum Download: PDF-Datei

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