Tschadsee: „Es sind Millionen Menschen auf der Flucht“
Der Afrika-Experte von World Vision, Albrecht Hartmann war jetzt in Niger. In das Land am Tschadsee sind Millionen Menschen geflüchtet, die wegen Terror und Militäraktionen um ihr Leben fürchten. Doch Niger selbst ist schon durch Dürre und Umweltkatastrophen belastet. Wie die Herausforderungen dort bewältigt werden, berichtet Albrecht Hartmann im Interview.
Welche Gegend in Niger haben Sie besucht und was haben Sie dort gesehen?
Ich war in der Region Diffa, etwa 1.400 Kilometer östlich der Hauptstadt Nijameh. Dort sind sehr viele Flüchtlinge aus dem Nachbarland Nigeria. Sie sind dort in Flüchtlingscamps untergebracht, zum Teil aber auch in selbstgebauten Hütten am Straßenrand oder an anderen Plätzen.
Trifft die große Zahl von Flüchtlingen auf eine eher unvorbereitete Region?
Die Flüchtlingskrise in den Ländern rund um den Tschadsee gibt es ja nicht erst seit gestern. Ausgelöst wurde sie schon vor Jahren durch den Terror der Boko Haram. In der Region sind die Behörden und das UN-Flüchtlingswerk schon auf Flüchtlinge eingestellt. Sie leben in großen Flüchtlingscamps, wenn sie nicht bei Verwandten unterkommen. Was die meisten bevorzugen. Es ist nicht mehr so chaotisch wie am Anfang der Krise.
Was sind neben dem Terror der Boko Haram noch Ursachen für die Fluchtbewegungen in der Region?
Für die akute Flüchtlingsbewegung, die ja fast zehn Millionen Menschen betrifft, ist der eigentliche Auslöser tatsächlich der Terror. Und die militärischen Maßnahmen der nigerianischen Regierung, mit denen der Terror bekämpft wird. Die Menschen flüchten vor Terror und Krieg.
Die Gegend um den Tschadsee leidet seit Jahren unter Dürre, Lebensmittel und Wasser sind sehr knapp. Eine Flüchtlingskrise trifft also auf eine Hungerkrise. Verschärft sich dadurch das Verhältnis zwischen Einheimischen und Geflüchteten?
Die Knappheit von Ressourcen wird natürlich verschärft, wenn mehr Menschen diese knappen Ressourcen beanspruchen. Ich habe aber keine Feindseligkeiten oder Spannungen zwischen den Einheimischen und den Vertriebenen verspürt. Im Gegenteil: es gibt eine große Gastfreundschaft und Verbundenheit zwischen den ja großteils auch blutsverwandten Gruppen. Dennoch bleiben gewisse Spannungen natürlich nicht aus. Man muss sich aber auch vorstellen, gerade wenn man aus Deutschland kommt, dass es genauso viele Vertriebene wie Einheimische in der Region gibt. Entsprechend ist der Druck enorm. Wo vorher vielleicht 400 Menschen das Wasser aus einem Brunnen geschöpft haben, sind es jetzt 800. Auch andere öffentliche Einrichtungen sind überlastet, Kliniken, Schulen. Das bedeutet Stress.
Was tut World Vision, um den Menschen vor Ort zu helfen?
Hygiene und Wasser sind problematische Bereiche. Hier setzt World Vision Prioritäten. Wir haben in den Lagern und auch in den Kommunen Brunnen gebohrt, Toiletten aufgebaut, Hygieneartikel verteilt. Wir haben Planen für die Hütten verteilt, damit diese warm und trocken sind. Denn nachts wird es in der Gegend sehr kalt.
Welche Mängel gibt es dennoch, trotz des Einsatzes von World Vision?
Generell mangelt es an allem. Niger ist seit Jahren auf der Liste der armen Länder ganz oben. Entsprechend hat der Niger traditionell Mühe, auch nur den Mangel der einheimischen Bevölkerung zu lindern. Und die Region Diffa ist weit weg, vergessen von der Hauptstadt. Dort gibt es keine Perspektiven und die Flüchtlingskrise wird nicht über Nacht vorbei sein. Wirtschaftliche Entwicklung, Arbeitsplätze sind notwendig. Mehr Kredite für die Bevölkerung, Zugang zu Märkten, wo es möglich ist: Landwirtschaft, Viehhaltung.
Gab es während Ihrer Reise besondere, bewegende Momente?
Sehr bewegend waren Gespräche mit Frauen im Lager Sayam Forage. Ich hatte gesehen, dass sie über Handys verfügen und fragte, ob sie noch Kontakt nach Nigeria haben. Sie bejahten und ich wollte wissen, ob sie denn am liebsten noch heute zurückkehren wollten. Und sie antworteten alle mit Nein. Denn sie haben noch immer Angst vor dem Konflikt in ihrer Heimat, vor den Schüssen, Granateinschlägen. zugleich waren sie aber optimistisch, was ihre Zukunft angeht. Und gar nicht voll Trübsal. Auch die Kinder sind beeindruckend. Zum Beispiel im Kinderbetreuungszentrum von World Vision. Dort können sie spielen, Sport treiben. Im Gespräch mit ihnen hat mich beeindruckt, wie sie diese Art von Normalität in sich aufnehmen. Für einige Stunden ihren Traumata vergessen können. Das bewegt schon sehr.