Kathryn Tätzsch spricht mit Flüchtlingen im Niger

"Kinder sind die Leidtragenden dieser Krise"

Interview mit Kathryn Tätzsch, die vor Ort unsere Hilfe koordiniert

In vier Ländern rund um den Tschadsee herrscht bittere Not. Geschätzte 10,4 Millionen Menschen in Niger, Tschad, Nigeria und Kamerun benötigen humanitäre Hilfe. Mehr als 500.000 Kinder sind bedrohlich unterernährt, und viele Kinder können nicht mehr zur Schule gehen. Unsere Kollegin Kathryn Tätzsch koordiniert unsere humanitäre Nothilfe vor Ort. 

Warum hat sich die Situation jetzt so dramatisch entwickelt?

Ca. 17 Millionen Menschen sind in den vier Ländern Tschad, Niger, Kamerun und Nigeria betroffen. Dabei handelt es sich um ca. 10.7 Mio Menschen, die dringende humanitäre Hilfe benötigen. Diese Krise hat ein unglaubliches Ausmass an Leid verursacht, das von der Weltöffentlichkeit kaum wahrgenommen wird (UNOCHA).

Und wer ist von der Krise besonders betroffen?

Mehr als 60 % der Vertriebenen und krisen-betroffenen Bevölkerung sind Kinder und Jugendliche und mit die Hauptleidtragenden in dieser vergessenen Krise. Seit über zwei Jahren leben die meisten von ihnen, nun zwar relativ sicher, jedoch geprägt von unglaublichen Gewalterlebnissen, vertrieben aus ihren Heimatdörfern im Tschad und Niger und v.a. Nigeria in der unwirtlichen Wüste um den Tschadsee in spontanen temporären Behausungen – im Sommer bei 40-50 C Grad, Heute morgen habe ich mit einer Gruppe Binnenvertriebener gesprochen, die seit 8 Monaten in Maina Kaderi unweit von Diffa Stadt in der Wüste leben, da ihre Dörfer nahe der nigerianischen Grenze von Boko Haram attackiert wurde. Diese 600 Familien leben neben Tausenden und Abertausenden "von der Hand in den Mund" und haben mich eindringlich gebeten, ihnen vermehrt finanzielle Mittel zur Eigenversorgungen und für einkommensschaffende Maßnahmen zu geben.

Interview Kathryn Tätzsch zur Lage in Niger

Das Interview zum Nachhören

Wie leben die Menschen in den betroffenen Gebieten?

Zur Zeit ist Winter in der Tschadsee Region, es weht sehr starker Wind - Sand ist überall, Kinder und Jugendliche sind damit beschäftigt, tagtäglich mehrmals weite Strecken zur nächsten Wasserstelle zurückzulegen oder sehr lange Schlange zu stehen, um an das kostbare Gut zu gelangen - oftmals Mädchen, nicht älter als 6-8 Jahre. World Vision ist sehr besorgt, dass Kinder, insbesondere Mädchen leicht Opfer gewaltsamer Übergriffe oder sexuellen Missbrauchs werden. Es gibt eine Zunahme der Früh-Zwangsverheiratung, ich habe von Fällen 10-jähriger Mädchen bestätigt bekommen.

Wie reagieren die Einheimischen auf die Geflüchteten?

Die ohnehin von Klimaveränderung (dramatisch schrumpfende Wasservorkommen des Tschadsees) und Desertifizierung betroffene Gastbevölkerung ist unglaublich geduldig und teil meist die wenigen Ressourcen mit den Vertriebenen, allerdings, wird die Verknappung von Wasser, Weideland, Holz, Zugang zu Infrastruktur (Gesundheit, Schule) und die unsichere langfristige Perspektive (Attacken der militanten Gruppen, kurzfristige Schließung von Märkten aufgrund von Sicherheitsbedenken) weiter möglicherweise zu stärkeren Spannungen zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen führen. Wobei wir auch starke Hilfsbereitschaft gesehen haben  - wir trafen z.B. eine von unzähligen Familien in Nguigmi Stadt (ca. 170 Km nördlich von Diffa Stadt, die mehr als 10 Binnenvertriebene aufgenommen haben in ihrem äußerst kleinen Haus und seit 2 Jahren alles - inclusive Nahrung mit ihnen teilen. Dies sind wirkliche Heldinnen und Helden in dieser Krise.

Gleichzeitig ist beeindruckend mit welcher Gleichmut, Geduld und dem absoluten Überlebenswillen diese Menschen, die Familienmitglieder und Freunde auf ihrer Flucht verloren haben, ja oft mitansehen mussten, wie viele vor ihren Augen hingerichtet wurden, nicht nur auf den nächsten Tag hoffen oder auf eine möglich Rückkehr in ihr altes Leben, sondern mit Einfallsreichtum und Zielstrebigkeit, Geld sparen, investieren, Kleinstbetriebe eröffnen, um somit eine Perspektive für die Zukunft zu haben. Ich habe in all meinen Jahren in der humanitären Hilfe in vielen Ländern, selten solch einen Überlebenswillen und positive Einstellung angesichts grausamer Erlebnisse und härtester gegenwärtige Umstände gesehen.

Kinder sind die Leidtragenden der Krise
Viele Kinder haben nicht genug zu essen oder zu trinken

Was tut World Vision, um den Menschen zu helfen?

WV konzentriert sich auf Zugang zu adäquater Trinkwasser Versorgung  mit Brunnenbau, ebenso sanitären Einrichtungen an Schulen und in Camps. Die meisten Wasserstellen in Diffa Region sind 80-100% übernutzt. WV hat alleine in den letzten Wochen mit Hilfsmittelverteilungen in der Diffa Region und BagaSola/ LacRegion mehr als 3,200 Menschen mit notwendiger Winterkleidung (speziell für Kinder und Kleinkinder), Plastikplanen, Decken, und anderen notwendigen Gebrauchsgegenständen ausgestattet, sowie für langfristige Unterstützung durch sichere Trink-Wasserversorgung (Brunnenbau, Rehabilitation) und Kinderschutzmaßnahmen (regelmäßig ca. 1,000 Kinder in einem großen Flüchtlingscamp mit Nigerianischen Vertriebenen in Diffa) gesorgt. Dies ist selbst zusammen mit den Maßnahmen anderer Organisationen, der Lokalbevölkerung und Nationalen Regierungen, ein „Tropfen auf den Heißen Stein“ in der Wüste... Deshalb konzentriert sich World Visions Untersützung auf Verbesserung des Zugangs zu sauberem Trinkwasser und Maßnahmen des Kinderschutzes – z.B. im Diffa-Sayam-Forage-Flüchtlingslager der UN, wo regelmäßig ca. 400- 1,000 Kinder in einem großen Flüchtlingscamp mit Nigerianischen Vertriebenen in Diffa, mit kreativen Aktivitäten, Spielen und informaler Grundausbildungsmaßnahmen betreut werden. World Vision ist zur Zeit dabei, Projekte zu konzipieren, die Zugang zu digitalem Lernen - in Partnerschaft mit der Privatwirtschaft v.a. allem für ältere Kinder und Jugendliche zu ermöglichen. Kinder, die seit 2 Jahren keinen Zugang zu Bildungsmaßnahmen haben, haben keinerlei Zukunftsperspektive und sind als Jugendliche anfälliger für extremes Gedankengut.

Woran mangelt es trotzdem?

Da die Sicherheitslage in den Ursprungskommunen dieser Menschen immer noch nicht stabil ist, und viele Menschen mit denen ich gesprochen habe, auch überhaupt nicht mehr zurück wollen, aus Furcht einer Wiederkehr militanter Gruppen, bleibt nur, mittelfristige Programme umzusetzen, z.B. durch Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche, einkommensschaffende Maßnahmen inklusive Kleinspargruppen, verbesserter Zugang zu Märkten und Handel. Humanitärer Schutz, insbesondere der Schutz von Frauen und Kindern als äußerst bedürftige Gruppen ist ein wichtiger Gesichtspunkt für WV’s Projekte, ebenso wie die Nachhaltigkeit der Maßnahmen, intra-kommunale Konflikte zu reduzieren, den sozialen Zusammenhalt zu stärken, klimafreundliche und Ressourcen schützende Maßnahmen umzusetzen.

Flüchtlingslager im Niger

Was kann und muss die internationale Gemeinschaft jetzt tun?

Kinder/ Jugendliche wie Mohamed - der von militanten Gruppe entführt und zum Kämpfer ausgebildet werden sollte, jedoch mit Hilfe seines Onkels, als Mädchen verkleidet in einem unbewachten Moment über die Grenze von Damasak in Nigeria in den Niger fliehen konnte und dort heute in einem von WV betriebenen Zentrum für Kinder-und Jugendliche im Flüchtlingslager engagiert ist - benötigen unsere Unterstützung, damit die neue Generation nicht ihre Hoffnungen in der Wüste begraben muss, sondern ein selbstbestimmtes und produktives Leben mit Zukunftsperspektive führen kann.